Innere Sicherheit – 12-jährige in den Knast
Die Überschrift des Bildzeitungskastens springt mir an der Ampel quasi direkt auf die Kühlerhaube meines
katbestückten, daher umweltfreundlichen, Kleinwagens.
Au Backe, denke ich, die Verantwortlichen dieses
Gesetzesentwurfes bräuchten dringend jemanden, der sie mit ihrem inneren Kind aussöhnt. Was müssen Männer und Frauen
durchlebt haben um auf solch abwegige Gedanken zu kommen?
Aber Moment mal, da war doch was mit einem 14-jährigen Jungen, der einen 2-jährigen “einfach so” ermordet hat. Der
Gedanke an den Horror und die Schmerzen, die der Kleine dabei ausgestanden haben muss, nimmt mir fast den Atem.
Wie mag es den Eltern des Kleinen jetzt wohl gehen? Wie würde ich mich fühlen, wenn eins meiner
Kinder…nein, stop, wenn ich solche Gedanken zulasse, sitzen meine Kinder ab morgen unter einer Käseglocke
aus Panzerglas, die sie vielleicht vor einem Gewaltverbrechen schützt, ihnen aber gleichzeitig die Luft zum Atmen
nimmt.
Aber was ist mit dem jungen Täter? Was hat ihn dazu gebracht, in derart extremer Form “Nichts” zu
fühlen?
Er ist doch selbst noch ein Kind – aber sicherlich kein freies. Ob er so etwas wieder tun würde?
Wo mag er jetzt sein, was mag er denken? Und seine Eltern? Ob sie sich schuldig fühlen? Fühlen sie überhaupt etwas?
Hilft der Familie jemand? Würden sie Hilfe annehmen können? Gibt es Hilfe, die solche Taten verhindern kann und wenn
ja, wie müsste sie aussehen?
In Gedanken veranstalte ich eine Psychotherapie -Sitzung mit den Eltern des Opfers und des Täters,
nebst Täter und den verantwortlichen Politikern und scheitere bereits an dem Versuch, ein Therapieziel zu definieren.
Puhhh – chancenlos. Schließlich heiße ich nicht Jesus.
Abgesehen davon kann Therapie eine Chance sein, aber
sicherlich keine Garantie. Und das wäre wohl genau das, was die Nation will: eine Garantie dafür, dass so etwas nie
wieder passiert. Und wenn doch? Dann hätte der Supervisor des zuständigen Therapeuten einen Problemfall.
Inzwischen verursacht mein eigener innerer Dialog ein heilloses Durcheinander, das meine eigene innere
Sicherheit gefährdet. Sämtliche Seelenanteile quatschen gleichzeitig:
“Ach, verdammt noch mal, sollen
sich die zuständigen Politiker den Kopf zerbrechen, was geht’s mich an? Wie bequem, wir reihen uns also in die endlose
Schlange derer ein, die Politiker wie Götzen anbeten und von ihnen Lösungen erwarten, die Menschlichkeit und absolute
Sicherheit gleichzeitig bieten!
Menschlichkeit ist niemals sicher! Du Möchte-gern-weiser-Klugscheisser! Oberflächliches Ekelpaket! Hört doch mal auf zu zanken, das bringt uns auch nicht weiter! Hört, hört, und was bringt uns weiter? Dieses Problem ist nicht so ohne weiteres lösbar!
Es soll da ein paar Leute geben, die ein nicht unerhebliches Gehalt auf unsere Kosten beziehen, um sich um derartige Dinge zu kümmern! Wozu glaubt ihr, werden die bezahlt? Beschäftigungstherapie! Stellt euch vor, der Arbeitsmarkt würde von arbeitslosen Politikern überschwemmt, die nichts anderes als schwafeln können – das wäre eine Katastrophe.
Dann zahlen wir lieber. Ihr schwafelt doch auch! Wir schwafeln nicht, sonder diskutieren auf der Suche nach einem Standpunkt! Ach so! Und wo liegt der Unterschied? Was haben wir bisher erarbeitet? Die Politiker schwafeln, die Bevölkerung schwafelt und wir schwafeln auch. Auf die Art und Weise ersparen sich alle Beteiligten wenigstens die Gefühle, die konkret durch derartige Ereignisse ausgelöst werden !”
Bei dieser Aussage überschwappt mich eine Flutwelle von ohnmächtigem Mitgefühl mit den Betroffenen, die mir die Tränen in die Augen treibt. Reden alle soviel, weil sie genau das nicht erleben wollen? Was würde wohl passieren, wenn ein Politiker in einer Talkshow plötzlich in Tränen ausbrechen und schluchzen würde: “Ich weiß nicht, was ich machen soll – ich weiß es wirklich nicht!” Arme Politiker!
Inzwischen kann ich mich nicht mehr entscheiden, wer mir jetzt eigentlich am meisten leid tut.
Mitleid ist in diesem Zusammenhang auch völlig fehl am Platz. Man müsste Bomben schmeißen. Fragt sich nur auf wen.
Wer ist denn nun zuständig? Plötzlich fällt mir auf, dass ich fahre, wie eine gesengte S…
Ich bin in all diesem Gegrübel automatisch aggressiv geworden. In mir selbst herrscht das gleiche Chaos, das zwischen allen herrscht, die versuchen, so etwas sinnvoll anzugehen. Aber es ist kein kreatives Chaos, sondern eins, das Ohnmacht und Gewaltbereitschaft erzeugt. Und diese Gewalt erscheint mir plötzlich wie eine eigenständige Energie, gegen die der Mensch so machtlos ist, wie gegen einen Hurrikan. – Wirklich? Ich beschließe, mich erst mal zu beruhigen, bevor ich jemanden über den Haufen fahre und steuere auf den Parkplatz am Wald zu. Ziellos laufe ich herum.
Die Bäume stehen einfach da und rauschen leise vor sich hin, als wäre nichts passiert. Trotz allem rühren sie sich
nicht von der Stelle. Irgendwie beneide ich sie. Wenn mein Leben daraus bestünde, einfach nur rumzustehen, könnte ich
mir das Gegrübel darüber sparen, was ich tun oder denken soll. Aber, hey – die Bäume tun ja doch etwas!!! Sie
beruhigen mich!
Verblüfft bleibe ich stehen. Sie beruhigen mich dadurch, daß sie einfach nur rumstehen und nichts
tun. Aber Nichts-Tun kann doch für mich keine Antwort sein. Ich bin doch kein Baum. Irgendwo habe ich gelesen,
dass man angeblich mit Bäumen reden kann, wenn man sie berührt.
Ich bemühe mich um Unauffälligkeit, als ich mich an einen alten knorrigen Stamm lehne und halte erst mal nach eventuellen Passanten Ausschau. Ich befürchte ernsthaft Gefahr zu laufen, von denen mit den weißen Turnschuhen abgeholt zu werden, bevor ich mein ernstes Supervisionsgespräch mit einer Eiche beendet habe. Zu dumm, dass ich nicht zu den Zeiten Buddahs lebe, in denen es wohl relativ normal war, unter Bäumen zu sitzen und nach der Erleuchtung zu suchen…
Hm, vielleicht ist die Regierung so unerleuchtet, weil kein Politiker auf die Idee kommt, sich unter einen Baum zu setzen, um danach zu suchen? Im Geiste sehe ich eine Werbeaktion: Jedem Politiker seinen Erleuchtungsbaum! Deutsche Bevölkerung bemüht sich um das geistige Wachstum ihrer Regierung und forstet Deutschland auf!
Na, wenigstens gelingt mir schon mal ein schiefes Grinsen. Also entspanne ich mich und frage den Baum, was er denn so an meiner Stelle machen würde. “Einfach das sein, wozu man gedacht ist!” lautet eine leise rauschende Antwort. Ich höre ja nicht auf, Mensch zu sein, nur weil ich darüber grüble, was man mit jugendlichen Straftätern tun sollte! “Rausch!”
Du hast es einfach leichter als ich. Ein Baum ist ein Baum und bleibt ein Baum. Er braucht sich nicht zu überlegen, was er tun soll oder will oder kann. Unsereins muss permanent entscheiden, ob er jetzt Politiker oder Psychotherapeut oder Mutter oder sonst was sein will und was er tun muss, um das dann auch umzusetzen. Mensch, Baum, sag was! “Rausch!”
Naja, zumindest versucht der Baum nicht, mein Therapeut zu sein. Er rauscht einfach. Wahrscheinlich ist es das, was er am besten kann. Und was kann ich am besten? Rumstehen und rauschen ist jedenfalls nicht meine Stärke.
“Und für was entscheidest du dich dann?” – mir ist tatsächlich, als würde der Baum mir etwas zuraunen. Auf jeden Fall entscheide ich mich gegen eine Politikerkarriere! Von denen wird immer erwartet, dass sie etwas wissen, was sie gar nicht wissen können und wenn dann alle kapieren, dass sie nichts wissen, werden sie abgewählt. So wird das nie was. “Und was weißt du?” raunt der Baum. “Rausch !” antworte ich.
Auf der Rückfahrt begegnet mir wieder die Überschrift, aber ich habe das leise Rauschen aus dem Wald mitgenommen. Mir ist klar geworden, dass es viele Probleme gibt, die nicht lösbar sind – zumindest nicht für mich. Die Erinnerung an den Baum jedoch ermöglicht mir, mich nicht in die emotional geladene Diskussionsspirale ziehen zu lassen, die lediglich zu verbalen Schlachten führt. Was würde wohl passieren, wenn eine Nation diese unerschütterliche innere Sicherheit hätten? Ob es dann noch Gewalttaten gäbe oder wäre diese innere Ruhe so ansteckend, wie die der Bäume? Auf jeden Fall würde die Bildzeitung pleite gehen – Gott, bewahre!!!!
Tina Höltzl,
Psychotherapeutin,
München
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