Letzte Hilfe® – Begleitung am Lebensende aus Sicht einer Sterbeamme
Komm, o Tod, du
Schlafes Bruder,
komm und führe mich nur fort;
Löse meines Schiffleins Ruder,
bringe mich an sichern Port!
Es mag, wer da will, dich scheuen,
Du kannst mich
vielmehr erfreuen;
Denn durch dich komm ich herein
zu dem schönsten Jesulein.
Bevor gesungen werden kann, was dieser Choral beschreibt, braucht es eine Wandlung. Eine Änderung unseres Blicks auf den Tod. Der Mensch scheut sich vor ihm und schiebt ihn lieber in die dunkelste Ecke seines Bewusstseins. Würden wir den Tod jedoch fragen können, würde er sagen: „Ich komme als Erlöser, Freund, Wandler und Begleiter für den, der den Weg auf der Erde zu Ende gegangen ist, aber auch für den, der sich darauf einlässt, einen Menschen im Sterbeprozess zu begleiten“. Jeder, der das Sterben bewusst und achtsam begleitet, wird gewandelt im Denken, wird davon erlöst, Situationen allzu schwer zu nehmen. Er wird fortan in seinem Leben von diesem heiligen Moment geführt und kann den Tod als Freund sehen. Vorher jedoch sollte er seine eigene Einstellung zum Leben und zum Sterben überprüfen.
Leben im Angesicht des Todes
Menschen die Angst vor dem Tod zu nehmen, habe ich mir in meiner Arbeit als Heilprakikterin für Psychotherapie, Dozentin und Kabarettistin auf die Fahne geschrieben. Denn es lässt sich nur weitervermitteln, was man selbst in sich trägt. Wer selbst große Angst vor dem Tod hat, ist nicht geeignet, Panik zu nehmen.
Ich selbst bin dem Tod sehr früh begegnet. Als meine Mutter starb, war ich gerade mal 15 Jahre alt. Seit dieser Zeit beschäftige ich mich intensiv mit dem Sterben und dem Tod. 35 Jahre lang arbeitete ich als Krankenschwester, begleitete unzählige Menschen hinüber. Der Moment, in dem ein Ruck durch den Körper geht und das Leben bzw. die Seele den Körper verlässt, in dem sich die Atmosphäre im Raum fühlbar verändert, war für mich immer magisch. Wenn Menschen sterben, dann ist da etwas ganz Besonderes, das ist fühlbar.
Hilfe in der Not
Ab dem Tag, an dem ein Mensch wirklich begreift, dass auch sein eigenes Leben endlich ist, wird er anders leben – das betrifft Jung und Alt gleichermaßen. Es kann sich um eine lebensbedrohende Diagnose handeln, wie z.B. Krebs oder ALS, oder um einen Erkenntnisprozess.
Im Moment der wahrhaftigen Begegnung mit Sterben und Tod wird das Leben auf den Kopf gestellt. Dann fällt alles aus den Taschen, was schwer und unnötig ist. Das Leben wird plötzlich unkompliziert. Trotzdem erwachen mit dem Erkennen auch meist Sorge und Angst, die sich bis zu Furcht und Panik entwickeln können. Es tritt eine akute Notsituation ein.
Während man in Erste-Hilfe-Kursen erfährt, was in einer lebensbedrohlichen Notsituation zu tun ist, das erlernte Wissen immer wieder übt und alle zwei Jahre auffrischt, so sieht es bei der Letzten Hilfe® ganz anders aus. Wie soll man wissen, was in der Not des Sterbens zu tun ist, wenn dieses Thema verdrängt wird und der Tod ein Tabuthema ist?
Früher wurde der Tod als Teil des Lebens begriffen. Er war im Alltag präsent und verankert. Heute müssen wir Sterbebegleitung wieder neu erlernen. Auf Basis einer konzentrierten Ausbildung in Letzter Hilfe® soll jeder gut vorbereitet werden und im Fall der Fälle in der Lage sein, Schwerkranken und Sterbenden beizustehen. Dazu muss ein Grundwissen vorhanden sein.
Die Phasen des Sterbens
Der Sterbeprozess wurde von Elisabeth Kübler-Ross in fünf Phasen eingeteilt:
Phase 1 Nicht wahrhaben wollen
Phase 2 Verhandeln
Phase
3 Wut und Zorn
Phase 4 Depression
Phase 5 Zustimmen und loslassen
Sterbeammen kennen eine weitere Phase, die sich oft zwischen der 4. und 5. Phase zeigt. Ich nenne sie „das Reisefieber“. Sterbende wirken urplötzlich fröhlich und kraftvoll. Demenzkranke werden geistig wieder klar. Bettlägerige steigen übers Bettgitter. Oft entsteht die Hoffnung, dass der Betroffene wieder gesund wird.
Die Einteilung der Phasen hilft, den Sterbeprozess als solchen zu verstehen. Zwar läuft dieser immer unterschiedlich ab, denn Menschen sind individuell verschieden – so können sich z.B. die Sterbephasen wiederholen oder in einer anderen Reihenfolge ablaufen – aber von den beschriebenen Phasen wird selten eine ausgelassen. Die Unterscheidung der Phasen ist auch hilfreich bei der Frage: „Was tue ich wann, und was ist richtig?“. Sterbeammen können hier auf einen gut gefüllten Werkzeugkoffer zurückgreifen. Für jede Phase gibt es Rituale und Möglichkeiten der Unterstützung.
Wie schütze ich mich selbst?
Das Allerwichtigste, was der Sterbebegleiter bei seiner Arbeit beachten sollte: Bleiben Sie, gehen Sie mit, halten Sie aus. Wenn es jedoch nicht mehr geht, dann nehmen Sie sich aus der Situation und sorgen Sie für Ablösung!
Menschen, die begleiten, müssen unbedingt ihre Grenzen kennen und für sich selbst sorgen können. Niemanden, am wenigsten dem Sterbenden, ist geholfen, wenn Sie am Bett zusammenklappen. Deshalb: Machen Sie Pausen, gönnen Sie sich etwas, sorgen Sie dafür, dass andere Menschen Sie ablösen können. Am besten erstellen Sie gemeinsam mit dem kranken Menschen eine Telefonliste, wer wann am Sterbebett sitzen kann und möchte. Holen Sie sich Hilfe vom Hospizverein, beim ambulanten Palliativ-Team (SAPV) oder bei Sterbeammen.
Die Würde des Sterbens
Wichtige Fragen für Ihre Arbeit sind:
Was kann ich konkret dazu beitragen, dass das Leben auf dem letzten Weg
lebenswert und möglichst genussvoll bleibt?
Hier sind die Themen palliative Mundpflege und
basale Stimulation, aber auch der Umgang mit Essen und Trinken (wenn dieses eingestellt wird) relevant.
Wie kann ich dazu beitragen, dass der Mensch in Würde und in Frieden gehen
kann?
Gute Hilfen finden sich in der Musiktherapie, in Form von Ritualen und meditativen
Fantasiereisen, die mit den Themen Ballast abwerfen und Loslassen zu tun haben.
Wie gestalte ich die Kommunikation wertschätzend, authentisch und offen, damit
das Wichtigste am Ende eins Lebens stattfinden kann: das Miteinanderreden – das letzte Gespräch?
Es ist unglaublich schwer, „Ja“ zu sagen zum Unausweichlichen. Und es braucht Mut, auszusprechen: „Wir
müssen Abschied nehmen“. Doch genau das hilft: „unerledigte Dinge noch zu erledigen“ (Kübler-Ross).
Der letzte Wille
Auch dieser ist ein Teil der Letzten Hilfe® und sollte besprochen werden. Fragen Sie nach einer Patientenverfügung, einem Testament, wie der Sterbende das Abschiedsfest (ein Sterbeammenritual) und seine Beerdigung gestalten möchte.
Das Bewusstwerden des Todes
Die wichtigsten Sätze in einer Begleitung sind immer: Was brauchst du? Was kann ich für dich tun? Der Sterbende ist der Experte. Lernen Sie jedoch auch, Stille und Schweigen auszuhalten. Das hilft oft mehr als sinnloses Geplapper, das aus Hilflosigkeit gespeist ist. Wenn der Sterbende allein sein möchte, respektieren Sie das. Menschen sterben manchmal gern alleine.
Das Trauermonster
Wenn der Mensch gegangen ist, kehrt Frieden ein. Für einen magischen Moment lang. Doch dann erwacht das Trauermonster. Auch mit ihm will ein guter Umgang gelernt sein. Dieses Monster lässt sich nicht in eine Ecke verbannen, um dort Ruhe zu geben; nein, es will angeschaut werden. Immer und immer wieder.
Wer seine Trauer unterdrückt und verdrängt, der wird nicht so schnell wiederauferstehen wie jemand, der sich in seine Trauer hineinfallen lässt, aufheult, schluchzt und schreit. „Durch das Weinen fließt die Traurigkeit aus der Seele heraus.“ (Thomas von Aquin) Ein Bild hilft beim Verstehen: Stellen Sie sich vor, Sie stecken in einem Strudel fest. Wenn Sie dagegen ankämpfen, verbrauchen Sie unendlich viel Kraft und Energie, und es bringt Sie weder vor noch zurück. Sie bleiben gefangen. Lassen Sie sich jedoch fallen, dann sinken Sie ganz nach unten, bekommen Boden unter die Füße und können sich nach oben abstoßen.
Trauer kehrt immer wieder
Die Trauer kommt in Wellen. Anfangs oft, später immer seltener. Zunächst sind sie hoch und übermächtig, und es bleibt einem nichts weiter, als zu überleben. Später, wenn sie seltener über einem zusammenschlagen, gelingt es, wenigstens in der Zeit dazwischen zu funktionieren. Aber die Wellen kommen unvorhergesehen – man weiß nie, was genau die Trauer auslöst (ein Lied, ein Bild, eine Straßenkreuzung, der Geruch von Kaffee etc.). Im weiteren Verlauf werden die Wellen weniger und sind nicht mehr ganz so riesig. Man kann sie kommen sehen (z.B. Geburtstage, Weihnachten, Jubiläen) und sich immer besser auf sie vorbereiten, im Wissen, dass es danach weitergeht. Aber – und das ist wichtig: Diese Wellen kommen auch Jahrzehnte nach dem Ereignis immer wieder.
Trauer endet nicht. Es wird nie wieder so wie vor der Begegnung mit dem Tod. Aber es wird gut, es wird anders, wenn die Trauer angenommen und integriert wird. Das Schlimmste, was ein Trauernder hören kann, ist: „Was? Du trauerst immer noch?“
Ein Verstorbener muss nicht „losgelassen“ werden. Aber er kann freigegeben werden; dann hat er die Möglichkeit, in Frieden zurückzukommen. Im geschützten Raum erzählen Trauernde oft von Begegnungen. Dies gilt es zu nutzen. Der Verstorbene bekommt so einen Platz im Leben und kann besucht werden.
Phasen der Trauer
Trauer verläuft ähnlich wie der Sterbeprozess in Phasen. Auch hier gilt: Jeder Mensch trauert anders.
Phase 1 Nicht wahrhaben wollen
Phase 2 Aufbrechen der Emotionen
Phase 3 Rückzug und innere Auseinandersetzung
Phase 4 Neuorientierung
Verhalten gegenüber Trauernden
Jede Phase braucht ein anderes Hilfsangebot. Sterbeammen haben auch hier Rituale, Geschichten und verschiedene Möglichkeiten in ihrem Werkzeugkasten, um Trauernde zu unterstützen. Das Wichtigste ist: Halten Sie aufrecht mit aus, bleiben Sie gelassen, hören Sie zu (und sorgen Sie für Ablösung, wenn es nicht mehr geht).
Wenn der Trauernde allein sein möchte, respektieren Sie das. Das hat nichts mit Ihnen zu tun. Aber denken Sie immer daran: Trauernde sitzen in einem dunklen Loch. „Ruf mich an, wenn du mich brauchst“, ist zwar gut gemeint, aber oft nicht zielführend, weil der Trauernde genau das nicht schafft. Besser ist es, Sie bringen sich immer wieder in Erinnerung, indem Sie den Trauernden z.B. zum Spazierengehen oder zum Eisessen abholen oder ihm Kuchen vorbeibringen.
Bitte werfen Sie nicht mit Ratschlägen oder schlauen Sprüchen („Zeit heilt alle Wunden“) um sich. Die wichtigsten Sätze, die jetzt helfen, sind: „Was kann ich für dich tun?“ und „Was brauchst du?“. Und wenn Sie nichts zu sagen wissen, dann sagen Sie genau das. Das ist besser als zu schweigen oder den Kontakt aus Hilflosigkeit zu meiden.
Humor beim Sterben und Trauern
Wenn man dem, was Angst macht, ins Gesicht lacht, verliert es seinen Schrecken. Ich stimme dieser Volksweisheit voll und ganz zu. Da ich auch Kabarettistin bin, habe ich mit drei Mitmusikern sogar ein Musikkabarett zum Thema Sterben entwickelt. Aber Tod und Humor – geht das denn zusammen?
Ganz im Ernst: Humor kann helfen! Gerade wenn durch Unsicherheit und Hilflosigkeit am Sterbebett wertvolle Zeit
verstreicht, in der man sich voneinander verabschieden und
aussprechen könnte. Eine humorvolle Bemerkung
erleichtert es, den bevorstehenden Tod anzusprechen, das wichtige letzte Gespräch in Gang zu bringen. Auch Witze,
lässige Sprüche und Heiterkeit am Sterbebett sind nicht zwingend pietätlos. Wenn Situation und Patient es zulassen,
darf dort auch mal gelacht werden. Das ist meine Erfahrung. Wie oft habe ich gehört: „Es hat so gut getan, wieder laut
zu lachen. Noch bin ich am Leben.“
Humor unterstützt den Wunsch, lebenswert zu leben bis zuletzt. Den letzten Tagen noch Leben einzuhauchen. Niemals aufzugeben, denn die Hoffnung stirbt bekanntermaßen zuletzt. Tatsächlich leben Menschen, die bis zum Schluss noch lachen (können), oft weit über die von Ärzten gesetzte Frist hinaus. So werden Sterbeammen zu Lebensammen.
Sie sind der Regisseur
Nähert sich das Leben dem Ende, läuft am Sterbebett noch einmal der Film Ihres Lebens ab, den Sie selbst in jedem Moment kreieren. In meinem letzten Bett möchte ich über meinen persönlichen Film lachen und sagen können: „Was war das für ein schönes Leben! Das möchte ich so gleich nochmal.“ – Welchen Film wollen Sie an Ihrem Lebensende sehen?
Karin
Simon
Heilpraktikerin für Psychotherapie, Sterbeamme, Traueramme, freie Trauerrednerin
atempause-karinsimon@web.de
Foto: ©Muamu / stock.adobe.com
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