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Naturheilkunde
Lesezeit: 7 Minuten

Tibetische Medizin in der westlichen Praxis

Die tibetische Konstitutionslehre basiert auf drei fundamentalen Prinzipien oder Energien: Lung, Tripa und Beken. Diese sind in jedem Menschen individuell ausgeprägt. Sie bestimmen nicht nur die physische, mentale, seelische und metabolische Grundkonstitution, sondern zeigen sich auch in äußeren Merkmalen. Die Kenntnis der Veranlagung gemäß der tibetischen Typenlehre ermöglicht eine rasche Einschätzung eines Patienten und erleichtert das therapeutische Vorgehen.

Die drei Körperenergien

Die vorgestellte Konstitutionslehre stammt aus dem 8. Jahrhundert. Damals versammelten sich auf dem tibetischen Hochplateau namhafte Vertreter der zu jener Zeit größten Medizinsysteme. Ihr Erfahrungsschatz und die besten Aspekte aus dem Ayurveda, der chinesischen und der griechisch-persischen Medizin (Unani) sowie das lokale Heilwissen der Bön-Medizin wurden in einem Buch, dem „Gyüshi“, zusammengefasst, das noch heute das Grundlagenwerk der Tibetischen Medizin darstellt.

Lung, Tripa und Beken (Wind, Galle und Schleim) liegen in jedem Menschen in einem charakteristischen Verhältnis vor. Jede hat typische Eigenschaften und Funktionen im Körper:

Lung Das bewegliche, bewegende und lebenserhaltende Prinzip wird vom Element Luft bestimmt und ist thermisch von neutraler bis eher kühler Natur. Lung ist verantwortlich für geistige Aktivität, Fantasie, Bewegung, Blutfluss und Ausscheidungsprozesse.

Tripa Das wärmende, katabole und motivierende Prinzip beinhaltet das Element Feuer und ist von heißer Natur. Tripa ist zuständig für Körpertemperatur, Verdauung, Sehkraft und Zielstrebigkeit.

Beken Das stabilisierende, anabole und zusammenhaltende Prinzip korrespondiert mit den Elementen Erde und Wasser und ist von kalter Natur. Beken steht für strukturgebende, feste und flüssige Bestandteile des Körpers, physische und emotionale Stabilität, Schlaf und Gelenke.

Die sieben Konstitutionstypen

Je nach Ausprägung von Lung, Tripa und Beken in der Grundkonstitution lassen sich sieben Typen unterscheiden. Bei den Grundtypen ist jeweils eines der drei Prinzipien vorherrschend. Bei den Mischtypen sind entweder jeweils zwei ähnlich dominant oder alle drei Prinzipien halten sich in etwa die Waage.

Anhand der äußerlichen Merkmale sind die drei Grundtypen gut zu unterscheiden. Per
sonen des Lung-Typs sind meist schlank und feingliedrig, haben eher dünne, trockene Haut und Haare, denken und sprechen oft schnell und teilweise etwas flatterhaft.

Tripa-Typen sind normalgewichtig und haben einen athletischen Körperbau mit einem eher rötlichen Hautton. Sie handeln und sprechen tatkräftig und zielorientiert.

Menschen mit einer typischen Beken-Konstitution besitzen meist einen kräftigen Körperbau und eine volle Figur. Die Haut ist weich, das Haar üppig und glänzend. Sie denken fundiert und handeln mit Bedacht.

Die für die beteiligten Prinzipien charakteristischen äußeren Merkmale und Eigenschaften treten bei den anderen Konstitutionstypen entsprechend gemischt auf.

Das Gleichgewicht zwischen den drei Prinzipien ist dynamisch, es wird von inneren und äußeren Faktoren beeinflusst, wie z.B. Ernährung, Verhalten, Klima, Tages- und Jahreszeit sowie Lebensalter. Wird das individuelle Gleichgewicht aus der Balance gebracht, kann das zu physischen und psychischen Störungen, bei starker und langfristiger Auslenkung sogar zu Erkrankungen führen. Trägt ein Mensch einen hohen Anteil eines Prinzips in sich, reagiert er besonders empfindlich auf Faktoren, die dieses erhöhen. So ist ein Lung-Typ z.B. besonders anfällig für Lung-Störungen bzw. Wind-Erkrankungen.

Einsatz in der westlichen Praxis

Einige Aspekte der tibetischen Konstitutionslehre können bereits mit wenigen Vorkenntnissen in den westlichen Praxisalltag integriert werden. Die Einschätzung des spezifischen Konstitutionstyps ist dabei zentral, wozu bereits die äußere Erscheinung einer Person erste Anhaltspunkte liefert. Eine genauere Bestimmung kann über die Abfrage weiterer körperlicher, psychischer und Verhaltens-Eigenschaften erfolgen.

Basierend auf der Grundkonstitution können einfache Ernährungs- und Verhaltensempfehlungen sowie spezifische pflanzliche Rezepturen und Nahrungsergänzungen gut in die Gesundheitsberatung und auch in die therapeutische Tätigkeit integriert werden. Günstig ist dabei, dass die Bilder der tibetischen Konstitutionslehre auch für Klienten recht anschaulich sind. Mit dem Wissen um den eigenen Konstitutionstyp können diese ihre Stärken und Anfälligkeiten besser verstehen. Dadurch sind sie häufig offener für therapiebegleitende Maßnahmen und können diese motivierter und besser umsetzen.

Typgerechte Ernährung

Speziell Ernährung und Verhalten haben einen großen Einfluss auf die Prinzipien Lung, Tripa und Beken sowie auf deren Gleichgewicht untereinander.

So kann eine langjährige falsche Ernährung das individuelle Verhältnis der Grundkonstitution aus der Balance bringen und zu Störungen, sogar zu Krankheit führen. Im Gegenzug bietet die Ernährung eine Handhabe, direkt therapeutisch oder therapiebegleitend auf eine Dysbalance einzuwirken und diese auszugleichen.

Die drei Prinzipien können als Manifestation der Elemente Luft (Lung), Feuer (Tripa), Erde und Wasser (Beken) verstanden werden. Diesen werden jeweils drei von sechs Geschmacksrichtungen zugeordnet, die das korrespondierende Prinzip fördern (s. Abb.).

So vermehren z.B. scharfe, saure und salzige Speisen das Feuer-Element und erhöhen Tripa. Lebensmittel mit diesen Geschmacksrichtungen werden daher als „wärmend“ bezeichnet. Menschen vom Tripa-Typ sollten solche Lebensmittel nur in geringem Maß zu sich nehmen. Bei einer vorliegenden Tripa-Störung sollten sie möglichst vermieden werden. Beispiele für die Konstitution stabilisierende und balancierende Ernährungstipps sind in der Tabelle (s.o.) aufgeführt.

Balancierende Kräuter

Über die Ernährungsempfehlungen hinausgehend setzt die tibetische Konstitutionslehre Komplexrezepturen aus vorwiegend pflanzlichen und teilweise mineralischen Komponenten ein. Mittlerweile stehen in Europa einige tibetische Rezepturen mit geprüfter Qualität zur Verfügung, die in der Schweiz nach europäischen Standards hergestellt werden. Diese sind gezielt zusammengestellt, um spezifische Störungen des Gleichgewichts zwischen Lung, Tripa und Beken auszugleichen bzw. in den natürlichen Grundzustand zurückzuführen. Bei bekannten typbezogenen Anfälligkeiten können sie auch eingesetzt werden, um äußeren Faktoren entgegenzuwirken und die Balance zu bewahren.

Bei der Beurteilung von Pflanzenstoffen sind nicht nur die sechs Geschmacksrichtungen ausschlaggebend.

So wird die Granatapfelrezeptur Se ´bru 5 eingesetzt, um das Verdauungsfeuer medrod zu stärken. Neben Granatapfelkernen enthält die Rezeptur langen Pfeffer, Kardamom, kleinen Galgant und Cassia-Zimt. Die Zutaten enthalten aus phytochemischer Sicht Scharf- und Schleimstoffe, ätherische Öle, Bitterstoffe und Fruchtsäuren. Die Rezeptur wird als wärmend eingestuft und beinhaltet v.a. die Geschmacksrichtungen sauer, scharf und süß.

Granatapfelkerne sind ebenfalls eine Komponente der Rezeptur Cong zhi 6, die neben ätherischen Öl-Komponenten auch Bitterstoffe, Tannine sowie den Säurebinder Calciumcarbonat beinhaltet. Auf tibetisch bedeutet Cong „chronisch, langanhaltend“ und zhi „Besänftiger“. Die Rezeptur wird eingesetzt, um ein überkochendes Magenklima zu besänftigen oder ein ausgeglichenes (tib. powa sung chub) zu erhalten.

Weitere wärmende Rezepturen werden bei Lung-Störungen genutzt. Insbesondere Stress führt zu einer Erhöhung dieses Prinzips, weshalb ausgeprägte Lung-Typen schnell auf Stress reagieren. Zusätzlich zu einer Lungreduzierenden Ernährung (wärmend, leicht verdaulich) kann die wärmende Rezeptur Dza ti 10 eingesetzt werden. Sie beinhaltet neben der namensgebenden Muskatnuss weitere wärmende und balsamische
Zutaten wie Gewürznelken, indischen Weihrauch, Bockshornsamen und Asafoetida. Die Rezeptur dämpft ein überschießendes Lung-Prinzip und hilft, wieder mentale Gelassenheit (tib. semde) zu erlangen.

Thermisch neutral bis leicht wärmend sind die Rezepturen aus der Garnag-Formelfamilie. Zutaten wie etwa Ehrenpreiskraut, Löwenzahnwurzel, langer Pfeffer und Artischockenblätter aktivieren, zusammen mit der enthaltenen Aktivkohle, eine geschwächte „Galle-Energie“ (tib. nutri cheyley).

Als eher neutrale Rezeptur gilt die Drei-Früchte-Formel ´Bras bu 3 aus der chebulischen und der bellirischen Myrobalane sowie der Amlafrucht. Die Rezeptur hat die drei Prinzipien ausbalancierende Eigenschaften und wird in der tibetischen Konstitutionslehre sehr breit eingesetzt, spezifisch um die „Leberhitze“ (tib. chintri) zu harmonisieren.

Nochmals deutlich kühler ist die Rezeptur sLe tre 5 mit den Hauptgeschmacksrichtungen bitter und adstringierend. Sie enthält u.a. Bitterstoffe, z.B. aus Tinosporastängeln, Enzianwurzel und Myrobalanenfrüchten, sowie Mumjo, und dämpft die „Gelenkswärme“ (tib. trumtsi).

Fazit

Die tibetische Konstitutionslehre und Medizin ist ein voll funktionsfähiges diagnostisches, therapeutisches und gesundheitserhaltendes System. Basierend auf dem leicht zu ermittelnden Konstitutionstyp können auch mit ersten Grundkenntnissen typgerechte Ernährungsempfehlungen in die Praxis umgesetzt werden, ggf. unterstützt durch spezielle Kräuter- und Gewürzrezepturen. Auch für westliche Klienten sind die Hauptcharakteristika der Prinzipien Lung, Tripa und Beken ohne Vorkenntnisse leicht nachvollziehbar, was bei der Verwirklichung von Tipps zur besseren Lebensgestaltung helfen kann. Damit lässt sich die tibetische Konstitutionslehre nahtlos in bestehende therapeutische Konzepte integrieren und kann mit komplementären sowie schulmedizinischen Behandlungen kombiniert werden.

Lukas MaronLukas Maron
Drogist HF (Schweiz), Aus- und Weiterbildungen in Spagyrik, Gemmo- und Tibetischer Medizin; Fachreferent für Komplementärmedizin, Dozent an den Paracelsus Schulen

Fotos: © padma

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