Sendepause – wenn Eltern verlassen und der Kontakt abgebrochen wird
Wir lieben unsere Kinder! Sie sind ein Geschenk und bereichern unser Leben. Wir sehen sie aufwachsen, begleiten sie ins Erwachsenwerden – und dann? In der Regel nabeln sie sich von uns ab und gründen irgendwann eine eigene Familie. Eine neue Generation betritt die Bühne des Familienlebens. Großeltern, Eltern und Kinder leben in Synergie miteinander. So will es der Plan der Evolution. Doch leider geht diese Rechnung nicht immer auf.
Was ist, wenn der Sohn oder die Tochter sich nicht nur abnabelt, sondern – aus welchem Grund auch immer – sich abwendet? Wenn plötzlich alle Kontakte zu den Eltern gekappt werden? Wenn das Kind aus der Reihe tanzt? „Warum geschieht mir das? Was habe ich falsch gemacht?“ und weitere Fragen schwirren dann im Kopf der Eltern umher.
Verlassene stehen am Pranger
Immer häufiger kommen Eltern, meistens sind es die Mütter, in meine Beratungspraxis und suchen Hilfe. Der Kontaktabbruch ihrer Kinder scheint zu schmerzlich und verwirrend zu sein, als dass sie die Situation alleine bewältigen könnten. Viele berichten mir, dass sie das Gefühl hätten, als habe ihnen jemand das Herz herausgerissen. Nichts in ihrem Leben sei seither noch so, wie es vorher war. Das Beziehungshaus der Familie sei zerstört.
Als wäre das nicht schlimm genug, stehen verlassene Eltern, auch hier sind es wieder überwiegend die Mütter, am Pranger. Oft höre ich davon, dass Familienangehörige, Freunde, Nachbarn, manchmal sogar der eigene Partner Schuldzuweisungen aussprechen. Sätze wie „Hättest du nicht dies oder jenes getan, gelassen, vermieden etc.“ schneiden sich tief in Herz und Seele hinein.
Gerade Mütter verstecken sich dann in ihrem Schmerz wie ein weidwundes Tier vor sozialen Kontakten. Die Angst vor weiteren, meist ungerechtfertigten Anschuldigungen ist groß.
Nicht selten fühlen sie sich, als hätten (ausschließlich) sie eine schwere Straftat begangen. Neben dem Gefühl, versagt zu haben, entsteht eine tiefe Traurigkeit. In dieser Situation ist der Weg in die Abwärtsspirale hinein in Richtung Depression nicht weit.
Soziale Strukturen sind selten der Auslöser
Wie kommt es dazu, dass Kinder sich plötzlich von ihren Eltern abwenden? Gerade noch waren Tochter oder Sohn umgängliche Kinder. Selbst in der „Sturmphase“ der Pubertät waren sie einigermaßen erreichbar für die Eltern. Doch kaum erwachsen geworden, werden alle Verbindungen abgebrochen, jeder Kontakt wird unterbunden. Das Kind lässt seine Eltern scheinbar im Stich – hat sich zum „Rabenkind“ entwickelt.
Mögliche Gründe dafür gibt es viele. Jede Familiensituation ist verschieden. Aus meiner langjährigen Tätigkeit als Beziehungsberaterin kann ich sagen: Weder die soziale Situation noch ungünstige Verhältnisse spielen eine wesentliche Rolle als Auslöser für einen Kontaktabbruch. „Rabenkinder-Familien“ gibt es in allen Gesellschaftsschichten. Es scheint auch nicht von Belang zu sein, ob Eltern geschieden sind oder alleinerziehend waren, ob das Kind in einer klassischen Familienkonstellation, in einer Patchwork-Familie oder überwiegend bei den Großeltern aufgewachsen ist. Auch die gängige Deutung Außenstehender „Das musste ja so kommen! In der Familie stimmt‘s vorne und hinten nicht“ habe ich kaum bestätigt gefunden.
Und täglich grüßt … das Familiensystem
In meiner Praxis sehe ich allerdings immer wieder bestimmte Faktoren, die einen Kontaktabbruch begünstigen könnten. Dies sind u.a. die Persönlichkeitsstruktur der Beteiligten sowie das Familiensystem selbst.
So beobachtete z.B. der Verhaltenstherapeut Bert Hellinger in seinen Aufstellungs-Seminaren wiederkehrende Verhaltensweisen und Mechanismen, die in Familien wirken. Er erkannte, dass sich Lebensmuster und Schicksale unbewusst über Generationen hinweg wiederholen. Tatsächlich berichten Eltern, wenn sie danach gefragt werden, oft von früheren Verwandten, die die Familie auf Nimmerwiedersehen verlassen hatten. Da die Macht des Familiensystems weit in unser Leben hineinreicht und selbst vergangene Generationen Einfluss haben, könnte es sein, dass sich solche Vorfälle in Familien wiederholen. Diese Macht bringt uns mitunter sogar dazu, Gefühle zu haben, die nicht unsere eigenen sind, sondern zu einer anderen Person aus vorausgegangen Generationen gehören. Es könnte sein, dass eine Art innere Stimme drängt und das Kind schließlich unbewusst nachfolgt: „Ich mache es wie du, Ur-Ahn/in“. Es kann dann gar nicht anders handeln, als diesem Impuls nachzugeben. Selbst in einer Familie, in der bis dahin „alles gut gelaufen“ ist.
Von Captain Kirk und Mr. Spock
Ein anderes Thema, das ich immer wieder antreffe, ist schlicht und ergreifend mangelndes Wissen über die Persönlichkeitsstruktur der einzelnen Familienmitglieder. Oft höre ich Eltern über ihr Kind sagen: „Mit dem/der kann man nicht reden.“ Ist das wirklich so? Könnte es nicht sein, dass die Eltern ihr eigenes Kind nicht verstehen (umgekehrt natürlich genauso)? Ja, selbstverständlich!
Zunächst ist da der ewige Konflikt der Generationen. Die Gesellschaft ist in stetigem Wandel – und jede Generation durchlebt ihre eigenen sozialen und wirtschaftlichen Themen. Unsere Kinder dürfen und müssen sich deshalb von den Eltern unterscheiden. Nur so ist Entwicklung möglich, nur so kann jeder Einzelne seine Persönlichkeit entfalten. Jeder Mensch ist geprägt von der Zeit, in der er aufgewachsen ist und lebt. Daraus ergibt sich fast zwangsläufig eine Art „Kommunika- tionsstörung“ zwischen den Generationen. Dies konnte Paul Harvey, Professor an der Universität New Hampshire, mit seinen Forschungen untermauern. Er erkannte, dass Menschen, die in den 1930er-Jahren geboren waren (Kriegskinder-Generation), deutliche Unterschiede sowohl im Sozialverhalten als auch in der Kommunikation im Vergleich zu ihren Kindern (um 1960 geboren, „Babyboomer“) zeigten. Und diese unterschieden sich eindeutig von ihren eigenen Kindern, der Enkel-Generation (um 1990 geboren, „Generation Y“).
Aber nicht nur diesbezüglich entstehen kommunikative Probleme zwischen Eltern und Kindern. Kommunikationsmuster ergeben sich auch aus der Basismentalität der Beteiligten. Damit wird die angeborene Grundstruktur eines jeden Menschen bezeichnet. Im Rahmen der Verständigung gibt es zwei Grundmuster: Während ein Mensch Sprache auf eine analytische Weise aufnimmt, verarbeitet ein anderer das Gesagte auf kreative Art und greift auf seine somatischen Marker zurück. Vereinfacht ausgedrückt: Bei der kreativen Verarbeitung von Sprache arbeiten Kopf und Gefühl zusammen, bei der analytischen herrscht der Verstand vor, Emotionen bleiben meist unberücksichtigt.
Die beiden Kommunikationstypen verstehen nicht nur auf ihre eigene Weise, sie sprechen auch unterschiedlich. Deshalb wundert es nicht, dass es in der Kommunikation schnell zu Missverständnissen und Unverständnis dem anderen gegenüber kommt. Ich nenne dieses Kommunikationsproblem das „Raumschiff Enterprise Paradoxon“. Das Verhalten der unterschiedlichen Typen erinnert an die beiden Hauptprotagonisten der berühmten Fernsehserie: Während Captain Kirk sein Raumschiff mit Verstand und Emotionen durch schwierige Situationen lotst, denkt und spricht sein erster Offizier, Mr. Spock, sehr faktenbezogen und ohne Verständnis für Emotionen. In den Filmen ist gut zu beobachten, welche Schwierigkeiten sich in der Verständigung zwischen den beiden ergeben.
Wenn man einen fachkundigen Blick auf die Art und Weise der Kommunikation innerhalb der Familie wirft, lässt sich oft das eine oder andere Defizit erkennen. Es kann gut sein, dass die Familienmitglieder während ihrer gemeinsamen Zeit häufig aneinander vorbeigeredet haben. Resultierende Missverständnisse und unterschwellige Konflikte können im Zuge des Erwachsenwerdens dann erstmals aufbrechen, sodass es schließlich zum Kontaktabbruch kommt.
Anregungen für die Beratungspraxis
Zusammenfassend sind das individuelle Familiensystem, der Generationenkonflikt und eine auf die Basismentalität bezogene unterschiedliche Art der Kommunikation der Familienmitglieder probate Erklärungsansätze für das Verhalten erwachsener Kinder, die sich von ihren Eltern abwenden.
Aufgrund der Vielschichtigkeit des Themas empfehle ich in der Praxis, die Arbeit mit dem Systembrett, Familienaufstellungen und verhaltenspsychologische Ansätze zu nutzen. Im „Aufdecken und Sichtbarmachen“ liegt meiner Meinung nach der Schlüssel zur Lösung.
Auch in den Kommunikationsmodellen von Friedemann Schultz von Thun, Marshall M. Rosenberg und Paul Watzlawick, um nur einige zu nennen, finden Therapeuten und Berater viele Anhaltspunkte. Zwei wichtige, wenn auch einfache Kernsätze hinsichtlich der Kommunikation liegen mir in der Beratung sehr am Herzen: „Man kann nicht nicht kommunizieren“ und „Eine Aussage wird erst beim Empfänger zur Nachricht“.
Wege aus der Grübelfalle
Vor allem der Gedanke, ob sie wirklich ihr Bestes für ihr Kind gegeben haben, kreist im Kopf der Eltern herum. Sie fragen sich immerzu nach dem Grund für den Kontaktabbruch und ob es ein Wiedersehen geben wird. Nur selten findet man eine konkrete Antwort auf diese Fragen. Verlassene können meist nur eines tun: versuchen, sich aus dem Grübeln zu befreien, handlungsfähig zu bleiben und sich in Geduld zu üben.
Allgemein ist es ratsam, körperlich aktiv zu werden und sich selbst wieder mehr zu spüren. Sportliche Aktivitäten sind gut geeignet, um das Gedankenkarussell zu stoppen und aus der Grübelfalle herauszukommen.
Eine weitere Hilfestellung kann sein, mit dem Inneren Team zu arbeiten, indem man der Grübelstimme einen Namen gibt (z.B. „Grete Grübel“) und diese direkt anspricht, wenn sich das Gedankenkarussell mal wieder unermüdlich dreht: „Grete Grübel, ich verstehe dich! Aber du bist jetzt nicht dran!“ Dadurch soll die innere Querulantin ihre Vormachtstellung verlieren, sodass auch andere, viel freundlichere innere Stimmen wieder gehört werden. Vielleicht meldet sich ja Frieda Fröhlich, die sagt: „Komm, lass uns mal wieder tanzen gehen. Das tut dir gut und du hast es dir verdient.“ Was zunächst ein wenig seltsam anmuten mag, verdient zumindest die Chance, ausprobiert zu werden. Nicht wenigen meiner Klienten hat allein dieser kleine Tipp geholfen.
Wichtig: Sollte sich im Kontakt mit den Eltern herausstellen, dass Anzeichen einer Depression oder einer traumatischen Verarbeitung des Erlebten bestehen, dann ist es absolut notwendig, sich bewusst zu machen, dass man in der beratenden Praxis an die Grenzen stößt. Klienten sollte dann dringend empfohlen werden, einen Arzt oder Psychotherapeuten zu konsultieren.
Und wenn der Kontakt wieder aufgenommen wird?
Auf keinen Fall sollte Schuld zugewiesen oder das Weggehen im negativen Sinn durchleuchtet werden. Fragen wie „Warum hast du uns das angetan?“ oder „Warum hast du das gemacht?“ führen immer in eine Rechtfertigungsfalle und würden sofort einen Keil in den zarten neuen Kontaktaufbau treiben. Das „Warum“ zu vermeiden, mag sich kompliziert anhören – ist es auch, da die brennenden, unbeantworteten Fragen sofort wieder präsent sind. Trotzdem ist es enorm wichtig, es zu unterlassen.
Hilfestellung bietet hier vielleicht im Ansatz – auch für nicht christlich geprägte Menschen – das Gleichnis vom verlorenen Sohn aus der Bibel. Hierin feiert ein Mann die Rückkehr seines Sohnes, der ihm den Rücken gekehrt hatte, voller Freude. Er fragt ihn nicht nach dem „Warum?“. Er ist einfach nur glücklich, dass sein verloren geglaubter Sohn wieder heimgekehrt ist. Auch ein Satz des Philosophen Friedrich Nietzsche kann hilfreich sein. Er schreibt: „Was ist dir das Menschlichste? Jemandem Scham ersparen.“
Wird es wieder gut?
Wenn der Abbrecher wieder Kontakt sucht, wird er wahrscheinlich von Sehnsucht angetrieben. Was ihn bestimmt nicht motiviert: sich Schelte und Schuldzuweisungen auszusetzen. Das bringt alle Beteiligten gewiss wieder auseinander. Daran sollten sich Eltern immer wieder erinnern!
Wenn es überhaupt eine Schuld gibt, dann liegt sie im System der Familie, und dies gilt es zu untersuchen und aufzuarbeiten. So gesehen gibt es also weder Opfer noch Täter, denn alle sind beteiligt – Verlassene und Verlassende, Eltern und Kinder.
Fazit
Als Berater können wir helfen, die Dynamik sichtbar zu machen, die zum Abbruch des Kontakts geführt haben könnte. Ganz im Sinne der lösungsorientierten Beratung sollten wir unsere Klienten in eine für sie akzeptable Sicht auf die Situation und eine tragfähige (Handlungs-)Perspektive begleiten.
Birgit Henriette Lutherer
Psychologische Beraterin mit Schwerpunkt Beziehungen,
Dozentin an den Paracelsus Schulen, Buchautorin
b.lutherer@t-online.de
Buch-Tipp
Birgit Henriette Lutherer:
Rabenkinder.
Wenn aus Abnabeln Abwenden
wird.
neobooks Verlag
Foto: ©metamorworks / stock.adobe.com
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