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Lesezeit: 11 Minuten

Alles beginnt im Gehirn

Schmerzreduktion und Leistungssteigerung durch Neuroathletik

Die Neuroathletik beschäftigt sich v.a. mit dem wahren Grund, dem Auslöser von Schmerzen oder Leistungsminderung: dem Gehirn. Dabei wird mit dem neuronalen Output gearbeitet: dem Symptom. Im vorliegenden Text begleiten wir eine Klientin aus dem Laufsport. Allerdings richtet sich der Ansatz der Neuroathletik nicht nur an Sportler, sondern ebenso an Menschen mit klassischen Alltagsbeschwerden, z.B. Rückenschmerzen, oder Patienten aus dem ergotherapeutischen Umfeld, z.B. bei sensorischen und motorischen Integrationsstörungen.

Das Gehirn als Zentrale

Im Wesentlichen hat unser Gehirn die Aufgabe, unser Überleben zu sichern, indem es das komplexe System unseres Organismus koordiniert und steuert. Nichts im Körper passiert, ohne dass unser Gehirn unwillkürlich oder willkürlich beteiligt ist: Atmung, Verdauung, Sensibilität, Emotionen, Sprache, aber auch gezielte Motorik und Koordination. Das neurozentrierte Training konzentriert sich auf eine Verbesserung von Motorik und Koordination in Verbindung mit der Atmung.

Input und Output

Das Gehirn analysiert ständig äußere und innere Reize. Es bewertet auch jede unserer Bewegungen im Kontext von äußeren Gegebenheiten und internen Prozessen (Herzfrequenz, Muskeltonus etc.). Diesem als Input bezeichneten Informationsfluss stellt das Gehirn je nach „Interpretation“ (Integration) einen Output entgegen, der als Anpassungsreaktion zu verstehen ist. Für unser Thema kann dies Leistungsminderung oder Schmerz bedeuten, aber auch Leistungssteigerung oder Schmerzreduktion.

Beteiligte Hirnareale

Im Bereich von Koordination und Bewegung sind bezüglich Input, Integration und Output das Kleinhirn, der Hirnstamm, Parietal- und Frontallappen im Großhirn von Bedeutung. Diese Strukturen gezielt anzusprechen, ist ein zentraler Baustein des neurozentrierten Trainings.

Kleinhirn
Das Kleinhirn integriert Informationen aus den visuellen, vestibulären und propriozeptiven Systemen. Bei der Steuerung unserer Bewegungen ist es hauptsächlich für Balance, Stabilität und Fehlerkorrektur verantwortlich (Feinmotorik).

Hirnstamm
In der Neuroathletik stehen Medulla (verlängertes Rückenmark), Pons (Brücke) und Mesencaphalon (Mittelhirn) im Fokus. Über sie werden Motorik und Koordination, Muskeltonus, Schmerzempfinden und Atmung gesteuert. Zudem finden sich Verknüpfungen mit dem frontalen Cortex, dem visuellen und dem akustischen System.

Parietal- und Frontallappen
Der Parietallappen verarbeitet sämtliche sensomotorischen Reize. Diese dienen dem Frontallappen als Vorlage, um darauf abgestimmt ein spezifisches willkürliches Bewegungsmuster zu erstellen.

Neuronale Bewegungsmuster

Grundsätzlich gilt: Je mehr eine Bewegung von unserem Gehirn als „sicher“ eingestuft wird, desto positiver ist auch der Output. Dieser hängt somit maßgeblich vom Ablauf der zentralen Reizverarbeitung ab. Trainingsergebnisse, aber auch Schmerzempfinden sind nicht nur abhängig von Willen, Fleiß, Genen oder physiologischen Eigenschaften, sondern auch davon, wie gut unser Gehirn im Hintergrund mitarbeitet.

Vereinfacht kann man es sich so vorstellen, als würde man am Computer in eine digitale Landkarte hineinzoomen. Ist die Internetleitung (Informationsverarbeitung) schlecht, bleibt die Karte lange verpixelt und das Bild ist nur schwer zu interpretieren. Ist die Leitung gut, erkennt man die Karte schnell gestochen scharf und detailliert. Deshalb ist es wichtig, die „Landkarten“ (sichere neuronale Bewegungsmuster) immer wieder zu trainieren, denn alles, was das Gehirn nicht zwingend benötigt, wird über die Zeit „verlernt”.

Willkürliche Bewegung und reflexive Stabilität

Wir unterteilen den oben beschriebenen Output in einen willkürlichen und einen reflexiven Anteil. Möchte man eine willkürliche Bewegung verbessern, erreicht man dies über eine Aktivierung des Cortex auf der gegenüberliegenden Seite. Schießt oder wirft man einen Ball z.B. mit rechts, dann erreicht man eine Verbesserung der Bewegung, indem der linke Cortex trainiert wird. Bewegungsübungen für die rechte Körperseite können sein: Schulter- oder Hüftkreisen, eine Acht mit dem Fußgelenk „malen“ etc. Die willkürlichen Bewegungen machen jedoch nur 10% des Outputs aus. 90% entfallen auf die reflexive Stabilität. Für das Gehirn ist es viel wichtiger, dass der Körper nicht umfällt, als besonders hart oder präzise schießen/werfen zu können.

Die meisten Trainingsansätze adressieren leider nur die willkürliche Bewegung (Torschuss, Weitwerfen, Kniebeugen), vernachlässigen aber die reflexive Stabilität. Auch hierauf sollte immer geachtet werden. So lässt sich über den linken Cortex nicht nur die gegenüberliegende Körperseite trainieren; man kann auch die gleichseitige Körperhälfte stabilisieren, indem man zusätzlich Hirnstamm (Muskeltonus, visuelle und akustische Signale) und Kleinhirn (Gleichgewicht, v.a. Aufrichtung der Wirbelsäule) aktiviert. Erst wenn die Stabilisierung der einen Körperhälfte gut genug ist, kann die Bewegung der anderen maximal stark und präzise ausgeführt werden. Je schlechter die Stabilisierung der einen Körperhälfte ist, desto schlechter ist auch die (willkürliche) Bewegung auf der anderen Seite. Sprich, wenn die linke Körperhälfte nicht gut stabilisiert ist, kann ich mit rechts weniger gut schießen, werfen oder greifen. Ob eine Stabilisierung notwendig ist, ergibt sich im Verlauf des Trainings. Dabei erfolgt die Stabilisierung selbst unabhängig vom Training.

So läuft das Training ab

Das Training verläuft nach dem Test-Retest-Prinzip. Mit Blick auf das Ziel des Klienten führen wir vor und nach jeder Übung einen Stellvertreter-Test bzw. -Retest durch. Denn wer nicht testet, der rät. Weil die zentralnervöse Reizverarbeitung innerhalb von Millisekunden abläuft, reichen schon wenige Wiederholungen bzw. eine kurze Übungsdauer aus, um herauszufinden, ob eine Übung als gut, neutral oder ausbaufähig eingestuft werden kann. Das Ergebnis des Retests zeigt im Vergleich zum Vortest, ob dieses besser, schlechter oder ähnlich zu vorher ausfällt. Dies ist auch der essenzielle Unterschied zu anderen Therapie- und Sportangeboten: Wir probieren nicht über Wochen oder Monate eine bestimmte Therapie (z.B. funktionelle Massagen) oder einen bestimmten Krafttrainingsplan aus, sondern wissen sofort, was hilft und was nicht. Die Tests können unterschiedliche Bereiche ansprechen, z.B. Beweglichkeit (Vorbeuge, Schulterrotation, HWS) oder Kraft (Griff, Flexoren, Extensoren).

Wichtig ist, dass der Test unter gleichen Bedingungen wiederholt und mehrfach ohne Probleme durchgeführt wird. Es macht z.B. einen Unterschied, ob ich einen Test mit offenen oder geschlossenen Augen mache (s. Fallstudie). Ebenso ist es sinnlos, den Klienten zur Verbesserung seiner Kraft 10 Klimmzüge durchführen zu lassen, wenn seine Muskulatur aufgrund der Belastungsintensität vorzeitig ermüdet. Beim Test geht es also darum, zu prüfen, ob eine Übung einen positiven Effekt auf den Retest hat, und nicht darum, Belastungsgrenzen auszureizen.

Fallstudie

Die Klientin ist eine sportlich aktive Frau Mitte 30. Sie kommt zu mir, weil sie während des Sports (u.a. beim Laufen) ein Stechen und Ziehen im linken Gesäß verspürt. Die Schmerzen sind bei geringer Laufintensität schwächer (auf subjektiver Schmerzskala 4-5 von 10), bei höherer Intensität stärker ausgeprägt (7-8 von 10). Der konsultierte Orthopäde konnte mittels Sonographie und MRT eine Zerrung und einen Muskelfaserriss ausschließen. Dennoch persistiert der Schmerz auch nach mehrwöchigen Lauf- und Sportpausen. Die Klientin arbeitet im Online-Marketing und sitzt mindestens 8 Stunden pro Tag am Schreibtisch.

Hintergrund

Wer den ganzen Tag sitzt, beansprucht die ischiocrurale Muskulatur nur sehr wenig. Diese ist aber gerade für das Laufen wichtig. Die (neuronale) „Landkarte“ für diese Bewegung wird über 40 Stunden in der Woche nicht aktiviert, und dann soll sie nachmittags plötzlich im Detail abgerufen werden. Dass unser Gehirn an dieser Stelle sagt „Moment mal, was passiert hier gerade? Das kenne ich nicht. Ich melde erst einmal Schmerzen an“, ist eine sinnvolle Reaktion.

Um die Ansteuerung zu verbessern, finden wir gemeinsam Übungen, die den Output der Klientin deutlich verbessern. Alle Übungen können in kleinen Einheiten (5-10 Minuten) mehrmals am Tag durchgeführt werden, was dafür sorgt, dass die entsprechende „Landkarte“ regelmäßig aktiviert wird.

Test und Übungen

Im ersten Schritt testen wir die Beweglichkeit der Klientin über die Vorbeuge (Abb. 1). Ein Krafttest kommt zu Beginn nicht in Frage, da sie nicht noch mehr in den Schmerz hineingehen soll. Ich prüfe die Klientin auch hinsichtlich Tätowierungen und Narben, die mithilfe von Druck, Wärme, Kälte und Vibration sensibilisiert werden. Narben und Tätowierungen können Neurorezeptoren in der Haut verletzen und die Integration des Inputs verschlechtern. Bei der Klientin können wir die Vorbeuge mit Druck auf eine Narbe am Rücken, die durch ein entferntes Muttermal entstanden ist, deutlich verbessern (Abb. 2).

Über einen Koordinationstest untersuchen wir, welche Hälfte ihres Kleinhirns besser funktioniert (Abb. 3). Hierfür streckt die Klientin die eine Hand auf Bauchnabelhöhe vor sich aus und klatscht mit der anderen Hand abwechselnd und so schnell wie möglich mit Handrücken und -innenfläche auf die ausgestreckte Hand. Danach werden die Seiten getauscht. Meist arbeitet eine Hand langsamer und/oder fehleranfälliger (z.B. trifft sie die ausgestreckte Hand mit der Handkante). Die linke Hand der Klientin hat in jeder Hinsicht Verbesserungspotenzial. Die Konsequenz aus dem Testergebnis ist, dass das gleichseitige Kleinhirn trainiert werden muss. Dies ist auch ein Hinweis auf ein Stabilitätsproblem der rechten Körperseite.

Gearbeitet haben wir zunächst mit den Gelenken in unmittelbarer Nähe zur Schmerzquelle: der Hüfte. Bei der Übung „Hüftpendel“ (Abb. 4) wird das Bein angehoben und im Knie um 90° gebeugt. Der Unterschenkel schwingt nun wie ein Pendel langsam von links nach rechts, wobei die Bewegung aus dem Hüftgelenk kommen sollte. Wir trainieren diese Übung zu Beginn auch mit Unterstützung, indem sich die Klientin an einem Gegenstand festhält, um sich allein auf die Bewegung konzentrieren zu können.

Der Opposing-Joint-Ansatz ist eine weitere Möglichkeit, um Schmerzen und Bewegungseinschränkungen bei nicht akuten Verletzungen zu behandeln. Dabei machen wir uns die Erkenntnis zunutze, dass Bewegungen bei einigen gegenüberliegenden Gelenken auch neuronal miteinander verschaltet sind. So schwingen z.B. die Arme seitenverkehrt mit, wenn wir laufen und dabei einen Fuß vor den anderen setzen. Bei der Klientin fanden wir heraus, dass bestimmte Übungen an der linken Hüfte eine Verbesserung der Beweglichkeit begünstigen. Das gegenüberliegende Gelenk ist in diesem Fall die rechte Schulter. Deshalb haben wir auch hier gearbeitet (Abb. 5). Besonders nicht-lineare Bewegungen, z.B. Kreise oder Achten, aktivieren neuronale Zentren auf der gegenüberliegenden Körperseite, was Schmerzen reduzieren und die Bewegung verbessern kann. Wichtig bei nicht-linearen Übungen ist, dass die Bewegung immer kontrolliert und sicher ausgeführt wird.

Im Verlauf der Behandlungen und bei regelmäßigem Selbsttraining wird es möglich, auch Übungen zur Kraftverbesserung einzusetzen (Abb. 6). Sowohl die sensorischen wie auch die motorischen Übungen haben zu einem erheblichen Kraftzuwachs geführt. So ist es mir anfangs noch möglich, das gesamte Bein der Klientin nach vorne zu drücken; später kann sie meinem Druck standhalten.

Augenprobleme als Fehlerquelle

Um festzustellen, ob bei der Klientin ein visuelles Problem vorliegt, wird der gleiche Kraft-Test mit geschlossenen Augen durchgeführt. Eine Verbesserung der Kraft ist deutlich zu spüren – ein Hinweis darauf, dass der visuelle Input eine Unsicherheit für das Gehirn darstellt. Nun kann die Klientin weder ihr Krafttraining noch ihre Laufrunde mit geschlossenen Augen absolvieren, aber sie kann ihre Augen mit gezielten Übungen trainieren.

Unser visuelles System ist das wichtigste, wenn es um die Verarbeitung von Informationen aus der räumlichen Umgebung geht. Zwar nimmt jedes Auge ein Objekt, das wir sehen, aus einem anderen Winkel wahr, die daraus entstehenden Abweichungen werden im Gehirn aber wieder zusammengefügt (binokulare Fusion). Im Idealfall sollten beide Augen gleich gut arbeiten. Ist die Disparität der Augen aber zu groß, funktioniert die binokulare Fusion nicht richtig und es entsteht ein Doppelbild. Die Integration der Umgebung wird im Gehirn als nicht sicher eingestuft, weshalb es mit negativem Output reagiert.

Um das binokulare Sehen zu trainieren, verwenden wir eine Brockschnur (Abb. 7). Dabei fixiert man über die Schnur eine Kugel. Die Schnur sollte nun doppelt und in sich gekreuzt sichtbar sein, die Kugel befindet sich am Kreuzpunkt. Je besser das binokulare Sehen bei einer Person funktioniert, desto schärfer sieht sie die beiden Schnüre.

Stabilitätsprobleme

Zum Schluss führen wir Tests zum Gleichgewicht durch. Die Stabilität der rechten Seite ist schwächer als die der linken. Dies zeigt sich erst im Einbeinstand mit geschlossenen Augen.

Da meine Klientin Laufsport betreibt, haben wir vornehmlich die horizontale Beschleunigung trainiert. Eine effektive Übung hierfür ist das Geradeauslaufen hin auf ein fokussiertes, immer klar erkennbares Ziel. Hier wird der Utriculus stark beansprucht. Da wir mit den Tests Verbesserungspotenziale auf der rechten Seite festgestellt haben, trainieren wir auch die rechte Seite stärker als die linke. Hierfür neigt die Klientin den Kopf nach rechts, während sie das Ziel weiterhin fokussiert (Abb. 8).

Ausblick

Zuhause führt die Klientin jene Übungen, die einen positiven Effekt auf den Retest haben, täglich morgens vor und abends nach der Arbeit durch. Unmittelbar vor dem Training führt sie zwei weitere Übungen durch, die einen besonders guten Effekt auf die Schmerzen haben. Wir absolvieren gemeinsam innerhalb von vier Wochen fünf Einheiten à 45 Minuten. Seit sechs Wochen ist die Klientin beschwerdefrei.

Wie lange hält die Wirkung an?

Die Wirkungsdauer ist individuell unterschiedlich und hängt u.a. von der Compliance des Patienten und dessen Neuroplastizität ab, und diese wiederum von vielen anderen Faktoren, z.B. Stress, Schlaf, Ernährung, Alkoholkonsum. Übungen können morgens besser wirken als nach einem stressigen Arbeitstag. Regelmäßiges Training verbessert auf jeden Fall die Neuroplastizität und Wirkdauer der Übungen bzw. macht sie sogar langfristig besser.

Fazit

Das Konzept des neurozentrierten Trainings kann in sämtlichen Bereichen Anwendung finden. Die Begriffe „Athletik“ und „Training“ werden häufig damit assoziiert, dass es sich ausschließlich an Sportler richtet. Wir haben jedoch alle ein Nervensystem, das trainiert werden möchte. Grundsätzlich gibt es keine Kontraindikationen, solange eine Übung keine Schmerzen verursacht. Symptome unbestimmter Herkunft sollten natürlich immer im Vorfeld medizinisch abgeklärt werden.

Fabian Kordel
Neuroathletik-Trainer, Gründer von Brainletics

info@brainletics.de

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