Die Muttermittel in der Homöopathie
Aufbauen, nähren, schützen
Die Ursubstanzen homöopathischer Mittel wurden von Beginn an kreativ gewählt. Reine Neugierde, phytotherapeutisches Vorwissen oder der Behandlungserfolg einer ähnlichen Substanz sind Antrieb genug, auch heute noch neue homöopathische Mittel herzustellen und einer Arzneimittelprüfung zu unterziehen. Samuel Hahnemanns Leitsatz „Ähnliches soll durch Ähnliches geheilt werden“ findet auch bei den „Muttermitteln“ Anwendung. Diese gehören zu den jüngeren Arzneimittelgruppen der Homöopathie, dennoch blicken Therapeuten heute auf über 20 Jahre praktische Erfahrung zurück. Grund genug, diese Gruppe homöopathischer Arzneien näher zu beleuchten.
Was sind Muttermittel?
Die Gruppe der Muttermittel umfasst Substanzen, die nur im Rahmen von Schwangerschaft und Stillzeit zu gewinnen sind. Es sind im übertragenen Sinne aufbauende, nährende und schützende Mittel, die bei Erwachsenen und Kindern gleichermaßen zum Einsatz kommen. In meiner Praxis arbeite ich ausschließlich mit Kindern und Frauen.
Zu den Muttermitteln gehören:
• Lac humanum (Muttermilch ohne Kolostrum)
• Lac maternum (Muttermilch mit
Kolostrum)
• Placenta humana (Plazenta)
• Aqua amniota humana (Fruchtwasser)
• Oxytocin (Bindungs-, Wehen-
und Milcheinschusshormon)
• Umbilicus humanus (Nabelschnur)
• Vernix caseosa humana (Käseschmiere)
Allgemein kommen sie zum Einsatz, wenn es darum geht, in der Geschichte des Patienten etwas nachzunähren. Es gilt, eine Lücke zu schließen, einen Mangel zu stillen oder ein tiefsitzendes Gefühl des Unvermögens zu heilen. Heilpraktiker oder Ärzte, die mit Homöopathie arbeiten, wissen, dass es keine Rolle spielt, wie lange ein Ereignis zurückliegt oder wann ein Glaubenssatz entstanden ist. Das Mittel muss den Kern des Themas treffen.
Die Muttermittel eignen sich hervorragend, wenn im Zeitraum von Schwangerschaft und Geburt etwas Einschneidendes passiert ist, was auch zum aktuellen Zeitpunkt Thema zu sein scheint. War etwa das Fruchtwasser in der Schwangerschaft auffällig gering und gedeiht das Kind als Säugling oder Kleinkind nicht altersgerecht, dann ist an Aqua amniota zu denken.
Abgrenzung
Die regulär erhältlichen Mittel werden aus Spender-Substanzen hergestellt. Viele Frauen lassen allerdings Globuli aus ihrer eigenen Plazenta oder Muttermilch herstellen. Kleine Firmen bieten hierfür Testkits an, sodass die Hebamme kurz nach der Entbindung eine Probe der Plazenta gewinnen kann. Die Präparate sind im Set meist als Potenzakkorde bis max. C30 erhältlich. Wird dem Baby ein homöopathisches Mittel aus der eigenen Plazenta oder Muttermilch verabreicht, so ist der Impuls jedoch nicht so klar und wirkungsvoll wie bei einem Mittel aus der Apotheke. Eine Fremdsubstanz ist aller Erfahrung nach um einiges tiefgreifender und klarer in der Wirkung.
Charakterisierung der wichtigsten Mittel
• Lac humanum
Wenn Kinder wenig Motivation haben, auf ihrem Entwicklungsweg voranzuschreiten, dabei zu Wut neigen
und noch am Daumen lutschen, ist Lac humanum angezeigt. Es kann die nötige Kraft, Motivation und Aufrichtung bringen,
um Freude am Großwerden zu entwickeln. Gerade bei Kindern, die sehr auf ein Elternteil als Schrittmacher fokussiert
sind, ist Lac humanum ein dankbares Mittel, um die Abnabelung und den Schritt hin zu mehr Eigenständigkeit zu
vollführen. Eine tägliche Gabe Lac humanum C30 kann auch den Prozess des Abstillens unterstützen. Bei Kindern, deren
Entwicklung verzögert ist oder bei denen trotz insgesamt harmonischer Entwicklung ein Teilbereich nicht weiter reift
(z.B. Einnässen), kann Lac humanum Veränderung bewirken. Klare Hinweise für Lac humanum als homöopathisches Mittel
gibt u.a. die Still-Geschichte und -beziehung zwischen Mama und Baby: Gab es enorme Startschwierigkeiten (z.B. zu
wenig Milch über Wochen), eine Unverträglichkeit der Muttermilch oder mochte/konnte die Mutter nicht stillen? Dann
kann Lac humanum angezeigt sein. Das Mittel wirkt – wie echte Muttermilch auch – immunstimulierend bei
Infektanfälligkeit.
• Umbilicus humanus Themen der Nabelschnur sind Zugehörigkeit und Loslassen. Eine Bindung ist als sehr verletzlich
erfahren worden.
• Oxytocin Das hier zugeordnete Thema ist eine klar gestörte Bindung, die gar nicht erst zustande
gekommen ist. Sei es anhaltender Disstress nach der Geburt, keine Entwicklung von Gefühlen seitens der Mutter für das
Kind, aber auch Beziehungslosigkeit und Unverständnis für Kommunikation können Themen sein (Stichwort:
Autismus-Spektrum). So zeigen Patienten mit Autismus-Spektrum-Störung sehr häufig eine selektive Wahrnehmung,
Kommunikation ist nur schwer möglich – es scheint, als seien sie in ihrer eigenen Welt. Blickkontakt kann nicht
gehalten werden, und starke körperliche Unruhe prägt das Bild. Jugendliche mit Autismus-Spektrum-Störung leiden häufig
an großer Erschöpfung. In der Schule müssen sie den ganzen Tag Höchstleistung erbringen mit all den Anforderungen, den
vielen Geräuschen, Stimmungen und der schnellen Kommunikation ihrer Mitschüler. Sie brauchen Schutz, um sich diesem
Umfeld anpassen zu können.
Bei ADHS-Kindern ist zu beobachten, dass diese sich um Bindungen bemühen. Sie haben unsichere Bindung erfahren, ihr
Verhalten spiegelt die große Unruhe und Unsicherheit in ihrem Leben wider. Durch ihr Verhalten z.B. in der Schule
fallen sie unangenehm auf, sammeln erneut die Erfahrung von Ausgrenzung oder Bindungsabbruch bzw. bauen keine stabilen
Bindungen auf. Ein Kreislauf, der in ihnen das Gefühl schürt, nicht dazu zu gehören.
• Placenta, Aqua amniota u.a.
Bei Gedeihstörungen jeglicher Art denkt man an alle versorgenden Muttermittel (Plazenta, Nabelschnur, Muttermilch,
Fruchtwasser). Im Kontext von ADHS und Autismus wird immer wieder darauf hingewiesen, dass Oxytocin und Käseschmiere
eine abschirmende und schützende Wirkung haben, wenn den Patienten die Außenwelt zu viel ist. Die Abgrenzung nach
außen gelingt nur mit viel Kraft und Anstrengung. Bei sich zu bleiben kostet alle Konzentration oder der Kontakt mit
vielen anderen Menschen raubt jegliche Energie.
Allgemeine Anwendungsgebiete
Muttermittel tragen als Überschriften das „Ankommen in der Welt“ und das „Eingehen von Bindungen“. Ihr Wirkungsbereich reicht von oberflächlich stärkend bis hin zu beeindruckend tiefgehend. Für die effektive Anwendung ist ein geschultes homöopathisches Verständnis empfehlenswert.
Allgemeine Themen, die auf Muttermittel hinweisen können:
• der Welt nicht gewachsen sein
• sich verloren
fühlen
• auf Bindungssuche sein
• schwaches Selbstwertgefühl
• Schutzbedürfnis, gehalten werden wollen
• nährende Mittel
• schwieriger Start ins Leben
Körperliche Symptome, die auf Muttermittel hinweisen können:
• Gedeihstörung
• Unruhe, Schlafstörung
•
Haut: Ekzeme, trocken, Psoriasis
• Verdauung: Blähungen, dünner Stuhlgang
• rezidivierende Infekte,
immungeschwächt
• Allergien
Fallstudie 1: Infektanfälligkeit
Der kleine Jonathan (2 Jahre) kommt mit seinen Eltern in die Praxis. Seine Mutter war schwer erkrankt und konnte ihren Sohn nicht stillen. Dieser ist nun in der Kita und lässt keinen Infekt aus. Er ist dauererkältet, seine Husteninfekte halten über Wochen an, immer begleitet von hohem Fieber. Ein regelmäßiger Besuch in der Kita ist kaum möglich. Zudem
hat er starke Wutanfälle, wenn er seinen Willen nicht durchsetzen kann. Es gibt wenig Verhandlungsspielraum oder Möglichkeiten, ihn zu begleiten, bevor Jonathan völlig außer sich ist. Zudem will er seine beiden nächtlichen Fläschchen nicht aufgeben, obwohl die Eltern die Pre-Milch schon verdünnt haben und sein Ernährungsstatus (kleiner Bauchansatz) es durchaus zulässt, sie wegzulassen. Sein Schnuller begleitet ihn überall hin und ist auch beim Sprechen immer im Weg.
Therapie
Über einen Zeitraum von 6 Wochen erhält Jonathan wöchentlich Lac humanum C200 (3 Globuli). Zusätzlich erfolgt eine Stuhldiagnostik mit individueller Darmsanierung. Außer dem Fakt, dass er nie Muttermilch erhalten hat, ist zu bedenken, dass seine Mutter aufgrund ihrer Erkrankung für Jonathan auch emotional nicht verfügbar war. Das äußert sich durch Unruhe und häufiges grundloses Quengeln.
Verlauf
Nach 6 Wochen kommt die Familie zum Follow-up. Jonathans Körperhaltung ist sichtlich aufgerichtet, er hat keinen Schnuller mehr im Mund, keine dauerhaft laufende Nase und strahlt mich an. Auf die Frage, ob es nachts noch Milch sein müsse, antwortet die Mutter gelöst, dass inzwischen eine Flasche mit Wasser ausreiche. Die Eltern sind sehr froh über das Ergebnis, da Jonathan sich nun auch gut in seine Kita-Gruppe einfinden kann. Ein beeindruckender Fall und zugleich einer meiner ersten Erfahrungswerte mit Lac humanum.
Fallstudie 2: Einnässen
Ein 8-jähriger Junge kommt in meine Praxis. Er nässt tagsüber permanent ein – egal ob zu Hause, bei Freunden oder in der Schule. Ihn selbst stört das gar nicht so sehr. Er war noch nie ganz trocken. Auffällig an seiner Entwicklung ist, dass er schon sehr früh großes Interesse am Lesen zeigte. Sprachlich jedoch war noch vieles undeutlich, und auch Stottern gesellte sich von Zeit zu Zeit dazu. Der Junge ist heute sehr sportlich und kommunikativ. Zu seiner Mutter hat er ein liebevolles, von Verständnis und Humor geprägtes Verhältnis. Er wirkt bei jedem Termin ausgeglichen, redselig und unbekümmert.
Therapie
Ziel der Behandlung ist die Unterstützung des Entwicklungsschritts, den Harndrang rechtzeitig wahrzunehmen, die aktuelle Handlung zu unterbrechen und zur Toilette zu gehen. Im Verlauf von 6 Monaten kommen mehrere Konstitutionsmittel (u.a. Calcium carbonicum) zum Einsatz. Das Problem persistiert jedoch. Nach Lac humanum C200 und in schneller Abfolge auch C1000 gibt es immer weniger nasse Hosen, tageweise gar keine mehr. Sobald die Mittelwirkung nachlässt, tritt das Einnässen wieder in den Vordergrund.
Verlauf
Der Junge bekommt daher über 4 Monate alle 14 Tage eine Gabe Lac humanum C200 (5 Globuli). Und plötzlich verschwindet die Thematik zur Gänze. Dieser Fall zeigt gut, dass nicht immer ein Trauma oder eine Belastung zugrunde liegen muss. Lac humanum ist hier als Stärkungsmittel zu deuten, das den fehlenden Entwicklungsschritt möglich macht.
Dosierung
Die Dosierung der Muttermittel ist nicht typisch homöopathisch. Sie werden aufgrund ihres stärkenden und nachnährenden Charakters tendenziell häufiger gegeben. Eine C30 eignet sich zur täglichen Gabe, eine C200 für eine wöchentliche und eine C100 für eine Gabe alle 2-3 Wochen über einen längeren Zeitraum von bis zu 6 Monaten.
Wie in jeder homöopathischen Behandlung sind eine engmaschige Begleitung und regelmäßiges Feedback Voraussetzung für solch hohe Dosierungen. Erfahrene Homöopathen entscheiden hier individuell je nach Fall.
Fazit
Muttermittel sind ein wahrer Schatz der Homöopathie. Sie sind auch zur parallelen Konstitutionsbehandlung eine echte Bereicherung. Prozesse werden sanft begleitet oder durch sie erst möglich. Auffälligkeiten rund um Schwangerschaft und Geburt führen oft zum richtigen Mittel. Fortbildungen, der Austausch in Supervisionsgruppen und die Anwendung in der Praxis haben mich dazu ermutigt, die Muttermittel großzügig und häufig einzusetzen.
Lena Koslowski
Heilpraktikerin mit Fokus auf Kinderheilkunde, Schwerpunkte: Klassische
Homöopathie, Darmsanierung/Symbioselenkung und Mikronährstoffanalyse
praxis@lenakoslowski.de
Literatur
Assilem M: Muttermittel in der Homöopathie. Narayana Verlag, 2021
Wittwer H: Muttermittel in der
täglichen Praxis. Timia Verlag, 2020
Wittwer H: Muttermittel. Vortrag. DZVHö-Ärztekongress in Stralsund, 2019
Moonen R: ADHS und Autismus. Vortrag 34. Homöopathie Tage in München, 2024
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