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Naturheilkunde
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Naturgestützte Interventionen

Die Natur als Freund und Helfer

 

Naturgestützte Interventionen als ganzheitlich wirksame Therapieoptionen


 

Naturgestützte Interventionen sind vielfältig und umfassen neben „grünen“ Therapien auch naturnahe Aktivitäten und nachhaltige Prävention. Von tier-, pflanzen- und landschaftsgestützten Angeboten über Naturheilkunde und naturnahen Tourismus bis hin zu grüner Architektur ist das Spektrum riesig. Lassen Sie uns einen Blick auf die therapeutischen Möglichkeiten und förderlichen Effekte naturgestützter Interventionen werfen. 


 

Ab- und Eingrenzung

Die Anzahl der Angebote naturgestützter Interventionen (NI) hat in den letzten Jahren enorm zugenommen. Dabei unterscheiden sich Art und Qualität stark voneinander. Begriffe werden unterschiedlich definiert und verwendet. Darüber hinaus überschneiden sich z. B. Aspekte der Naturheilverfahren häufig mit denen von Wellness-Angeboten. Es ist für Laien, selbst für Profis nicht einfach, den Durchblick im Dschungel der naturbasierten Therapien, Aktivitäten, Präventionen und Dienstleistungen zu behalten. 

Im Bereich der tiergestützten Interventionen (TGI) existieren seit den 2010er-Jahren klare Definitionen und Kriterien für die Durchführung professioneller Einsätze von Tier-Begleitteams, die v. a. mit Hunden, Pferden und Eseln arbeiten. Die Beziehung zwischen Mensch und Tier kann positive Entwicklungen anstoßen oder als „Türöffner“ für bessere Therapieergebnisse fungieren. Für die anderen naturbasierten Angebote fehlen bislang einheitliche Definitionen. Aus meiner Sicht umfasst der Oberbegriff „naturgestützte Interventionen“ alle professionsunabhängigen Angebote, die mittels Naturelementen die Erhaltung und Verbesserung psychischer, sozialer, kognitiver und Fähigkeiten anstreben. Sie ergänzen klassische Therapien und Maßnahmen. 

 

Definitionen

In der Literatur finden sich für naturgestützte Interventionen bis dato keine Definitionen. Im Bereich der tiergestützten Interventionen sieht das anders aus: Die beiden großen internati- onalen Organisationen, die European Society for Animal Assisted Therapy (ESAAT) und die International Association of Human-Animal Interaction Organisations (IAHAIO) präsentie- ren solche, deren Schwerpunkte fast identisch sind. Exemplarisch stelle ich die Definition der ESAAT vor: 

Die tiergestützten Interventionen orientieren sich an Wissenschaftsstandards verwandter Disziplinen wie Psychotherapie, Psychologie, Medizin, Pädagogik, Ethologie, Veterinärmedizin u. Ä. Tiergestützte Interventionen umfassen bewusst bio-psycho-soziale Gesundheit und geplante pädagogische, psychologische und sozialintegrative Angebote mit Tieren aller Berufsfelder aus dem Gesundheitsbereich. 

Tiergestützte Interventionen können für Jugendliche, Kinder, Erwachsene sowie ältere Menschen mit kognitiven, sozial-emotionalen und motorischen Einschränkungen und Fördersomatischer Befindlichkeit und entsprechender schwerpunkten im gesamten Spektrum von Salutogenese und Pathogenese angewandt werden.“ (ESAAT, Positionspapier 2022) 

 

Taxonomie

Gemeinsam mit Bernadette Roos Steiger, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, und Renée Vroomen-Marell, M.Sc. Päd. und erfahren in tiergestützter Therapie, schlage ich zur besseren Einordnung der Angebote zwei Taxonomien (Abb. 1, 2) vor. Sie basieren zum einen auf den Professionen bzw. Fachbereichen, zum anderen auf Naturbereichen. 

NI werden v. a. von Menschen im Sozial- und Gesundheitswesen angeboten. Fachleute tun dies auf Basis ihrer Berufsausbildung, zusätzlich verfügen sie über eine Zusatzausbildung im Bereich NI. Die Grundlage für die Arbeit mit Elementen der Natur sind verschiedenste Theorien, Modelle und Konzepte. Dabei wird der jeweilige Prozess nach den Standards des entsprechenden Berufsbereichs dokumentiert und evaluiert. 

 

Die Taxonomie skizziert drei Hauptgruppen der NI und wird ergänzt durch weitere Angebote: 

  • Tiergestützte Interventionen (Tiere)
  • Pflanzengestützte Interventionen (z. B. Pflanzen, Garten)
  • Landschaftsgestützte Interventionen
  • Assoziierte naturgestützte Angebote (z. B. Naturheilkunde, Öko-Tourismus, Land Art)

Zwischen den Gruppen ergeben sich teilweise Schnittmengen: Ein hundegestützter Therapiespaziergang z. B. wird unweigerlich vom Wetter beeinflusst. Außerdem können Pflanzen betrachtet werden oder er findet womöglich im „Naturelement Wald“ statt. Grundsätzlich haben Angebote in den drei Hauptgruppen (Punkte 1-3) die Zielsetzung, das soziale, psychische und körperliche Wohlbefinden von Menschen zu verbessern und zu stärken. Zusätzlich existieren weitere Möglichkeiten, die Natur in die berufliche Tätigkeit (Naturheilkunde) oder das private Umfeld (Öko-Tourismus, Grüne Architektur) einzubeziehen. 

 

Indikationen

Die medizinische Diagnostik hat nach den Richtlinien eines aktuellen und anerkannten Diagnosesystems zu erfolgen, wobei die jeweils aktuelle Version der ICD das wichtigste Instrument ist. Dabei decken NI ein breites Spektrum körperlicher und psychischer Indikationen ab – völlig altersunabhängig. Auch wenn Körper, Geist und Psyche eine Einheit bilden und immer in Wechselwirkung stehen, ist es sinnvoll, die Indikationen entsprechend der Diagnose in körperliche und psychische 

Merkmale zu unterteilen. Diese werden bei der Auswahl geeigneter tier-, pflanzen- oder landschaftsgestützter Intervention immer einbezogen, was die Entscheidung für eines oder mehrere Angebote erleichtert. 

Natürlich muss die Maßnahme grundsätzlich von den Betroffenen gewünscht sein, um die erhofften Effekte zu erzielen. 

 

Psyche

Mögliche psychische Indikationen bzw. Diagnosen nach ICD-10/11 sind u. a. Depressionen, Angststörungen, Schizophrenie, Persönlichkeitsstörungen, Essstörungen, Suchterkrankungen, Autismus-Spektrum-Störungen und die Demenz. 

 

Körperebene

Zu möglichen körperlichen Indikationen bzw. Diagnosen nach ICD-10/11 zählen u. a. cerebrale Bewegungsstörungen unterschiedlicher Ursache, Atemwegserkrankungen (z. B. COPD), Hautleiden (z. B. Psoriasis, Neurodermitis), motorische Defizite im Rahmen von geistiger Behinderung, physische Rehabilitation nach Herzinfarkt, Multiple Sklerose und chronische Schmerzen (z. B. bei Fibromyalgie, chronischer Migräne). 

 

Gesundheitsförderung

Präventiv wirksame und gesundheitsfördernde Angebote gewinnen immer mehr an Bedeutung, da wir durch fortschreitende Technologisierung und Urbanisierung immer mehr den Bezug zur Natur verlieren. Gerade hier können NI einen wertvollen Beitrag leisten. Vom vielfältigen Angebot können Menschen mit oder ohne Einschränkungen bzw. Störungsbildern in allen Altersgruppen profitieren. Indikationen sind: Stressabbau, Erhöhung von Wohlbefinden und Lebensqualität, Blutdrucksenkung, Normalisierung des Herz-Kreislauf-Systems, „Erdung“ und Resilienzförderung. 


 

 

Kontraindikationen

Eine naturgestützte Maßnahme muss für die Klientel individuell und auf Basis ihrer Biografie, Kultur, Diagnose, des Störungsbildes und der aktuellen Situation gewählt werden. Dabei geht es nicht nur um den Schutz der Person, sondern auch um den des Anbieters, in der tiergestützten Intervention darüber hinaus um das Wohl des Tieres. 

Die wichtigsten Kontraindikationen körperlicher Art sind Allergien, akute Infektionen und ein stark geschwächtes Immunsystem. Wesentliche Kontraindikationen psychischer Art sind akute psychotische Zustände, große Schwierigkeiten mit der Impulskontrolle und ein sexuelles Interesse an Tieren. 

 

Wirkungsweise

Bezüglich der Wirksamkeit von NI wird von einem heilsamen Prozess gesprochen. Naturbasierte Angebote können einen solchen innerhalb des breiten Spektrums zwischen Gesundheit und Krankheit in Richtung Salu- togenese anstoßen, was zu einer Verbesserung auf verschiedenen Ebenen führen kann. Damit ist nicht nur die Wirkung auf eine Krankheit oder Minimierung von Leiden gemeint. 

Folgende Effekte im Sinne der Förderung, Verbesserung und Milderung von Defiziten konnte ich in meiner 20-jährigen Tätigkeit als Fachfrau für tiergestützte Therapie und Pädagogik in den Fachbereichen Pädagogik, Agogik, Psychiatrie und Freiheitsentzug beobachten: 

 

Physische Ebene 

  • Grob- und Feinmotorik
  • Körpergefühl
  • Normalisierung des Herz-Kreislauf-Systems
  • Gleichgewichts- und Orientierungssinn
  • Koordination
  • Körperliches Wohlbefinden

 

Psychische Ebene 

  • Impulskontrolle
  • Frustrationstoleranz
  • Empathie- und Bindungsfähigkeit
  • Stärkung von Resilienz
  • Stärkung von Selbstwirksamkeit
  • Seelisch-emotionales Gleichgewicht

 

Mentale Ebene 

  • Konzentration und Aufmerksamkeit
  • Stimulation von Merkfähigkeit
  • Stärkung der Entscheidungsfähigkeit
  • Stärkung der Handlungsfähigkeit
  • Anregung der geistigen Fähigkeiten
  • Stärkung des Realitätsbezuges
  • Mentale Aktivierung
  • Stärkung von Wahrnehmung und Beobachtung
  • Verbesserung von Lernen und Lernverhalten

Sozio-kommunikative Ebene 

  • Soziale Kompetenz
  • (Selbst-)Sicherheit
  • Zugehörigkeit und Gemeinsinn
  • Motivation
  • Sinngebung und -findung
  • Kontakt zur Außenwelt
  • Interesse am sozialen Umfeld
  • Nonverbale und verbaler Kommunikationsfähigkeit
  • Fairness, Kritikfähigkeit, Kompromissbereitschaft, Feedback, Konfliktlösungskompetenz

Diese Auswahl an förderlichen Effekten zeigt die Ganzheitlichkeit der verschiedenen NI auf. Oft ist in der Therapie zu beobachten, dass den Zielen entsprechende Maßnahmen auch auf anderen Ebenen Wirkungen zeigen und so für positive Überraschungen sorgen, z. B. können Psychopharmaka in Absprache mit den behandelnden Ärzten reduziert werden. 

Um die vielfältigen Dimensionen der Wirkeffekte nutzen zu können, ist es unabdingbar, nicht defizitorientiert vorzugehen, sondern mit den Ressourcen und den brachliegenden Potenzialen der Klienten zu arbeiten. 

Naturgestützte Aktivitäten

In Ergänzung zu NI im engeren Sinne können naturgestützte Aktivitäten von Menschen ohne Grundausbildung im sozialen, pädagogischen oder therapeutischen Bereich angeboten werden. Häufig wird die Arbeit ehrenamtlich und ohne ein zwingendes therapeutisches Ziel verrichtet, v. a. der Tierbesuchsdienst in sozialen Einrichtungen gehört dazu. Diese Angebote können viel Freude, Abwechslung und eine Verbesserung der Lebensqualität bei den Bewohnern in Alters- und Kinderheimen sowie Institutionen für Menschen mit körperlichen und geistigen Einschränkungen darstellen. 

 

Seriosität von Angeboten

Da die Abgrenzung von Therapien und Wellness-Angeboten hinsichtlich ihrer Seriosität oft sehr schwer möglich ist, können folgende Kriterien helfen, eine Differenzierung vorzunehmen: 

Qualifikation: Verfügen die Anbieter über eine abgeschlossene Berufsbildung im Sozial- oder Gesundheitswesen? Können sie zusätzlich eine Weiterbildung in einem zur Hauptgruppe gehörenden Fachbereich vorweisen (Abb. 1)? 

Kenntnisse, Erfahrung: Welches Erfahrungswissen haben die Anbieter, welche Reputation in der Branche? 

Ethische Standards: Werden ethische Richtlinien, v. a. in der Arbeit mit Tieren, eingehalten? Respektieren sie Wünsche, Bedürfnisse und Grenzen der Klienten? 

Wissenschaftliche Grundlagen: Stützen sich alle Interventionen auf wissenschaftliche Forschungsergebnisse? Berücksichtigen die Anbieter die wissenschaftliche Evidenz hinsichtlich der Wirksamkeit von NI? 

Dokumentation: Dokumentieren die Anbieter ihre Arbeit und die Fortschritte der Klientel? 

Transparenz: Legen die Anbieter ihre Kosten und Vertragsbedingungen offen? Gibt es versteckte Gebühren? Liegt ein Vertrag vor? 

Kundenbewertungen: Gibt es Bewertungen und Erfahrungsberichte anderer Klienten? 

Weitere Ausschlusskriterien: Werden unrealistische Versprechungen gemacht oder professionelle Standards ignoriert? 



 

Verantwortung Klimawandel

Wenn wir über naturgestützte Interventionen sprechen, ist es unerlässlich, auch die Gesundheit unseres Planeten und der Natur zu thematisieren. Die Zeit, den Raubbau an unserem Ökosystem aufzuhalten, rennt uns davon. Als Anbieter naturbasierter Therapien und Coachings tragen wir der Natur gegenüber eine besondere Verantwortung. Wir nutzen die vielfältigen heilsamen Kräfte der Natur, um Gesundheit zu erhalten, zu fördern oder wiederherzustellen. Zugleich sind wir aufgefordert, von der Natur nicht nur zu nehmen, sondern auch etwas zurückzugeben. 

Durch die Verbindung unserer Arbeit mit der Natur entwickeln wir ein tieferes Verständnis für die Auswirkungen unseres Handelns auf die Umwelt. Das wiederum ermöglicht es, unsere Klientel für ihren Umgang mit der Natur zu sensibilisieren. Wir können vor unserer Haustür anfangen, die Natur zu schützen, indem wir öffentliche Verkehrsmittel nutzen, uns in regionalen Umweltverbänden oder in Gemeinschaftsgärten vor Ort engagieren. In Zukunft wird es entscheidend sein, dass wir respektvoll mit der Natur umgehen und uns verstärkt für nachhaltige Praktiken einsetzen. 

Es kann nicht oft genug betont werden, dass die Natur eine unschätzbare und lebenswichtige Ressource ist. Sie ist für unsere körperliche und psychische Gesundheit essenziell. 

 

Fazit

Professionelle naturgestützte Interventionen ermöglichen die Förderung und Verbesserung der körperlichen und psychischen Gesundheit. Tier-, pflanzen- oder landschaftsgestützte Interventionen sollten der Diagnose nach ICD, der Biografie und den Wünschen der Klientel entsprechend eingesetzt werden. So wirken sie ganzheitlich im Sinne von bio-psycho-sozialen Heileffekten auf Lebensqualität und Störungsbilder. Wir als Anbieter naturnaher Dienstleistungen vermitteln unserer Klientel nicht zuletzt Achtsamkeit und Respekt gegenüber Tieren, Pflanzen und Landschaften. So können wir uns im beruflichen wie auch im privaten Umfeld gegen die Ausbeutung der Natur und für den Erhalt unseres einzigartigen Planeten engagieren. 


 

Theres Germann-Tillmann

Fachfrau für tiergestützte Therapie, Pädagogik und Beratung mit Hintergrund Dipl.-Pflegefachfrau HF, Dipl.-Berufsschullehrerin, Dipl.-Schulleiterin Pflege und Leitungserfahrung an einer pädagogischer Gesamtschule, Autorin

edorea@bluewin.ch

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