Baunscheidtieren & Cantharidenpflaster
Sterben diese Methoden in der Naturheilpraxis aus?
Die Baunscheidtbehandlung und das Cantharidenpflaster gehören zu den Ausleitungsverfahren. Während das Schröpfen als auch die Blutegelanwendung in der naturheilkundlichen Praxis nach wie vor eine wichtige Rolle spielen, sind die beiden anderen Therapiemethoden etwas in Vergessenheit geraten. Zu Unrecht, wie ich finde.
Das Konzept der Ausleitung
Die historischen Grundlagen der Ausleitung sind aus antiker Zeit überliefert und gehen auf die Humoralpathologie zurück. In diesem Medizinsystem war man der Ansicht, dass Gesundheit (Eukrasie) von der Harmonie vierer Säfte abhängig ist: Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle. Man nahm an, dass das dauerhafte Überwiegen eines Saftes unweigerlich zu einer Disharmonie und damit zu Krankheit (Dyskrasie) führen würde, und dass durch Ausleitung des Überflüssigen die Wiederherstellung der harmonischen Säftemischung möglich sei. Bedeutende Vertreter der Humoralpathologie waren u.a. Galen (~131-216 n.Chr.) und Hippokrates (460-320 v.Chr.) und Avicenna (~980-1037 n.Chr.).
Über 2000 Jahre lang war die Humoralmedizin Grundlage therapeutischen Denkens und Handelns. Nachdem ihr Fundament jedoch durch das der modernen Medizin abgelöst worden war, gerieten die entsprechenden Behandlungsverfahren in Vergessenheit. Sie wurden erst vom Neurophysiologen Bernhard Aschner (1883-1960) wiederentdeckt, als dieser die Werke von Paracelsus in zeitgemäßes Deutsch übertrug, um sie einem breiteren Publikum zugänglich zu machen.
Obwohl Paracelsus ein Gegner der Humoralpathologie war, verwendete er sämtliche damals bekannten Techniken zur äußeren Entgiftung, z.B. Aderlass, Schröpfen, Cantharidenpflaster oder Blutegel, wie auch viele Mittel zur inneren Entgiftung, indem sie körpereigene Ausscheidungsprozesse anregen, z.B. Diuretika oder Diaphoretika. Paracelsus sprach jedoch nicht von auszuleitenden Säften, sondern von endogenen und exogenen Giften, die er „Tartarus“ nannte (Schlacken): „Wo die Natur einen Schmerz erzeugt, dort will sie schädliche Stoffe anhäufen und ausleeren, und wo sie dies nicht selbst fertigbringt, dort mache ein Loch in die Haut und lasse die schädlichen Stoffe hinaus.“
Warum funktionieren Hautreizverfahren?
Die Haut als unser flächenmäßig größtes Organ stellt nicht nur eine Barriere gegen Angriffe von außen dar, sondern sie hat auch eine Verbindung zu den inneren Organen. Außerdem ist sie an der Ausleitung von Stoffwechselendprodukten beteiligt. Daher können Ausleitungsverfahren über die Haut große Erfolge bringen.
Eine Erklärung zur Frage „Warum funktionieren Hautreizverfahren?“ lieferte Prof. Alfred Pischinger: Mit dem Begriff
der Grundregulation definierte er die Funktionseinheit aus Zelle, Zellzwischengewebe und Endstrombahn. Hier entfaltet
sich der „Stoff-Wechsel“. Substanzen werden in jegliches Gewebe zu den Zellen hin- und aus den Zellen hinaus in
Richtung Gefäße abtransportiert und müssen dafür den Zellzwischenraum passieren. Ist der Körper überlastet, weil er
z.B. mit einem Übermaß an schädlichen Substanzen in Kontakt kommt oder seine Stoffwechselkapazität unzureichend
ist, muss er manches „zwischenspeichern“. Einen solchen Auslagerungsbereich bildet der Extrazellularraum
(Pischinger-Raum). In Folge der Ansammlung von Substanzen „verstopft“ das die Zelle umgebende Milieu zunehmend, Ver-
und Entsorgung sowie Energieproduktion in der Zelle werden beeinträchtigt, was die zusätzliche Einlagerung von
Stoffwechselschlacken begünstigt. Dies kann zu Gewebeübersäuerung und Gelosen führen, außerdem zu einer Behinderung
der Übermittlung von hormonellen Informationen oder Transmittersignalen der Nervenzellen. Auch eine mangelnde oder
fehlerhafte Bildung von Zellstrukturen oder ganzen Zellen (Tumore) kann die Folge sein. Das Immunsystem wird verstärkt
involviert (Phagozytose, erhöhte entzündliche Reaktionslage im Gewebe, Allergiebereitschaft), wertvolle Abwehrkräfte
werden gebunden.
Grundregulation bedeutet auch, dass die Zellen nur so reagieren können, wie sie über den Extrazellularraum informiert werden. Die Struktur dieses Raumes entscheidet über die Funktionalität des Stoffwechsels. An dieser Stelle kommen nun die hautreizenden Therapieverfahren ins Spiel: Mit Hilfe der Baunscheidtbehandlung und des Cantharidenpflasters lässt sich Einfluss auf das unter der Haut liegende Gewebe nehmen. Bezüglich ihrer Wirksamkeit könnte man sagen, dass Ersteres mehr an der Oberfläche und eher lokal wirkt, während Letzteres systemische Effekte entfaltet.
Cantharidenpflaster
Der Wirkstoff des Cantharidenpflasters, das Reizgift Cantharidin, wird aus der spanischen Fliege gewonnen. Die ersten Beschreibungen medizinischer Anwendungen dieser Substanz stammen aus dem Altertum (Hippokrates). Damals wurde es gegen Nieren- und Blasensteine, bei Tollwut und als Aphrodisiakum eingesetzt. Auch altindische Sanskritmediziner und römische Ärzte kannten Behandlungen mit Cantharidin. In der Homöopathie wird es heute als Cantharis gegen Erkrankungen der Nieren- und Harnwege eingesetzt oder bei akuten Entzündungen der Haut- und Schleimhäute mit brennendem Schmerz. Das Cantharidenpflaster wurde erstmals bei Dralianos (7.Jh.n.Chr.) als Mittel bei rheumatischen Beschwerden beschrieben.
Cantharidin gehört zu den blasenziehenden Mitteln (Vesikantien) und kann dazu beitragen, dass Schlacken aus dem Gewebe abgeleitet werden. Hierzu wird es in Form einer Paste auf ein Pflaster gestrichen, das auf schmerzende Bereiche aufgeklebt wird. Hier kommt es sofort zur Erweiterung der Blutgefäße und damit zur verstärkten Durchblutung des Gewebes. Nach einiger Zeit (zwischen 8 und 24 Stunden) führt Cantharidin zu einer örtlichen Hautreaktion, die einer Verbrennung 2. Grades ähnelt und zur Blasenbildung führt. Je länger das Pflaster auf der Haut bleibt, umso größer fällt die Reaktion aus. Das Gewebswasser in den Blasen enthält Schlacken aus Blut und Lymphflüssigkeit, die ausgeleitet werden, wenn das Pflaster abgenommen und die Blase punktiert wird. Zum Abschluss wird die „Brandblase“ fachgerecht versorgt. In meiner Praxis verwende ich hydrokolloidale Pflaster, dadurch entstehen keine Narben.
Mit dem Cantharidenpflaster greift man der Natur unter die Arme. Nach Paracelsus wird ein Loch erzeugt, und die schädlichen Stoffe werden hinausgelassen. Die Anwendung wird manchmal auch als „weißer Aderlass“ bezeichnet. Sie wirkt nicht nur symptomatisch, sondern ursächlich und gezielt. Die Behandlung zeigt durchblutungsfördernde, lymphstrombeschleunigende, nierenanregende (Patienten müssen öfters zur Toilette), entkrampfende und schmerzstillende Effekte. Aufgrund der „Verbrennung“ wird das Immunsystem aktiviert. Chemische Reaktionen, die dabei stattfinden, heben den pH-Wert im Gewebe an, was eine Entsäuerung nach sich zieht.
Die umfassende Wirkung des Cantharidenpflasters erklärt sein weites Anwendungsfeld. Es kann nicht nur bei Erkrankungen des Bewegungsapparates eingesetzt werden, sondern auch bei Kopfschmerzen, Tinnitus, Schwindel u.v.m. In höheren Dosen kann Cantharidin allerdings nierentoxisch sein, deshalb sollte es nicht bei akuter Zystitis oder Nephritis angewendet werden.
Baunscheidtieren
Entwickelt wurde es vom Naturwissenschaftler Carl Baunscheidt (1809-1872). Dieser hatte festgestellt, dass seine durch eine Rhizarthrose verursachten Schmerzen nach einem Mückenstich im Daumenbereich dauerhaft verschwanden, wenn auch unter verstärkter Durchblutung und heftigem Juckreiz. Als Feinmechaniker entwickelte er den „Lebenswecker“, einen Metallstift mit elastischer Spiralfeder, die durch Spannen und Loslassen eine kleine Platte mit 30 Nadeln auf die Haut schnellen lässt, und dazu ein hautreizendes Öl.
Die Anwendung ist einfach: Mit dem „Lebenswecker“ wird die Haut oberflächlich angeritzt, dabei aber nicht penetriert. Es tritt höchstens punktuell Blut aus, und es entstehen keine Narben. In die aufgeraute Haut wird das Öl eingerieben. Dieses gehört zu den „Pustulantien“ (Hautreizmitteln), die einen künstlichen Hautausschlag bewirken. Die Originalrezeptur ist nicht überliefert, deshalb existieren heute einige Varianten. Es gibt inzwischen auch andere Gerätetypen, wie den Nadelroller, der einfacher zu handhaben ist und mit dem auch kleine Hautbereiche behandelt werden können. Grundsätzlich ist diese Therapie aber für ausgedehnte, großflächige Areale geeignet. Meistens wird paravertebral gearbeitet.
Nach dem Einreiben entstehen an den Einstichstellen kleine Quaddeln und Reizödeme, das Gebiet ist gut durchblutet. Der Patient empfindet leichtes Kribbeln und/oder Brennen. Oft juckt der behandelte Bereich. Dem kann Einhalt geboten werden, indem die Stelle mit fettem Öl (z.B. Olivenöl) eingerieben wird.
Durch die verstärkte Durchblutung und den verbesserten Lymphabfluss kommt es zur Schmerzlinderung, Ableitung von Giftstoffen und Immunaktivierung. Über den cutiviszeralen Reflex erfolgt eine Weiterleitung auf die dazugehörigen Organe und somit ein systemischer Reiz auf das vegetative Nervensystem. Für die Baunscheidtbehandlung existieren etwa 50 Indikationen. Hingewiesen sei noch darauf, dass seinerzeit das Baunscheidtieren international verbreitet war und es nachdrücklich von Universitätskliniken empfohlen wurde. Manche halten diese Methode gar für die „Akupunktur des Westens“.
Fazit
Bereits bei Hippokrates galt: „Bei äußerlich angewendeten Reizmitteln richtet sich das Körperinnere nach dem Äußeren. Alle äußeren Absonderungen sind ein Heilmittel gegen andere innere Krankheiten“. Dass dieses Vorgehen funktioniert, zeigt die erfolgreiche Anwendung von Ausleitungsverfahren über Hunderte von Jahren. Wir Heilpraktiker sollten uns im Sinne einer Regulationsmedizin nicht so sehr um den spezifischen Namen einer Erkrankung kümmern, sondern uns klar vor Augen führen, dass jede Krankheit ein Zeichen des Organismus ist, dass das Ganze aus der Balance geraten ist. Und dass meist auch unerwünschte (bzw. angehäufte) Stoffe ausgeleitet werden müssen. Die hier vorgestellten Therapieverfahren liefern ein wirkungsvolles Handwerkszeug, mit dem selbst schwere chronische Erkrankungen positiv beeinflusst werden können.
Heike
Kopietz
Heilpraktikerin
Foto: ©Vitalii Hulai / stock.adobe.com
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