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Die Lunge

Die Gesundheitsbranche ist ein Handwerk. Im Austausch über Wissen, Erfahrungen und Bauchgefühl können wir voneinander lernen. In diesem Artikel gebe ich Ihnen einen kurzen Einblick in meine Lungensprechstunde. Ein besonderes Augenmerk lege ich hier auf die Art und Weise, wie sehr sich Atmung und Atemfähigkeit im Laufe des Lebens verändern und mit welchen Worten wir von ihr sprechen. 

 

 

AUF DEN ERSTEN BLICK

Es gibt vieles, was wir bei einem Patientenkontakt schon auf den ersten Blick beobachten und beurteilen können: Sprechund Atemweise, Atempausen, Körperhaltung. Im Rahmen des Anamnesegesprächs können wir weitere Faktoren mit Einfluss auf unsere Atmung abklopfen, z. B. Allergien und andere Vorerkrankungen, Schlafqualität, Dauermedikation, persönliche Stressoren, einschneidende Erlebnisse. Schließlich hören wir mittels Auskultation in die Lunge hinein. 

 

Mein Leitsatz lautet: Die Atmung ist der hörbare Herzschlag des Menschen. 

Bevor wir tiefer in die Praxis einsteigen, vorweg ein wenig Grundwissen, damit wir ein umfassendes Verständnis von der Bedeutung unserer Atmung entwickeln können. 

 

 

WARUM ATMEN?

Bei jedem Atemzug wird Sauerstoff (O2) inhaliert und Kohlendioxid (CO2) exhaliert. Dafür braucht es nur ca. 1,2 Sekunden. Doch ein Atemzug bedeutet noch viel mehr, denn er steht mit zahlreichen Körperfunktionen in Verbindung. Nachfolgend eine Liste von Prozessen, die im Rahmen der Atmung geschehen: 

 

  • Sauerstoffaufnahme
  • Organmassage und Drainage durch Zwerchfellbewegung
  • Wittern von Gefahr (Feuer? Verdorbenes Essen?)
  • Partnerwahl (jemanden gut riechen können)
  • Wahrnehmung von Wohlgerüchen (Appetit, Verdauung, Hormonausschüttung)
  • Sexuelle Erregung (mitteilen und verbreiten)
  • Blutdruckveränderung (nasales Stickstoffmonoxid [NO])
  • Herzfrequenzveränderung (reflektorisch aufgrund eines veränderten Gefäßdrucks durch die Atmungsveränderung)
  • Entgiftung (70% über Lunge, 20% über Haut, 7% über Urogenitaltrakt, 3% über Fäzes)
  • Effiziente Energiebereitstellung (bei aerobem Stoffwechsel rund 15-mal mehr ATP)
  • Kohlendioxidabgabe
  • Stabilisierung des Blut-pH-Werts

 

Die hier vorgestellten Punkte nehmen in ihrer Bedeutung von oben nach unten zu (Prioritäten). Der pH-Wert des Blutes und die aktuell zirkulierende Menge an CO2 sind DIE treibenden Faktoren für unsere Atmung. Sauerstoff hat der Mensch in der Regel im Übermaß, verwendet wird im Alltag nur ein Bruchteil der jeweils zirkulierenden O2-Menge. 

 

 

WARUM IST CO2 SO WICHTIG?

CO2 ist das elementare Abfallprodukt nahezu aller körpereigenen Leistungen. Ein Anstieg des Blutgas-CO2-Werts bewirkt eine Absenkung des Blut-pH-Werts. Um diesen wieder ins Lot zu bringen, ist Abatmen das bestmögliche Ventil, da die Abgabe von Gasen nach außen am schnellsten über die Lunge gelingt. 

 

Der menschliche Körper steckt oftmals zusätzlich in einer sauren Stoffwechsellage: Die zugeführte Ernährung ist ungesund, das Bewegungspensum niedrig, die Verdauung stockt, das Stresslevel im Job ist hoch, der Akku wird nachts nur noch ungenügend geladen – und in der Folge kippt der Blut-pHWert. In der Tat führt alles, was auch die Herzfrequenz erhöht, zu einem Anstieg von CO2, dem begegnet werden muss. 

 

WIE ATMEN?

Von allen lebenserhaltenden Organen ist nur die Lunge in ihrem Rhythmus willentlich beeinflussbar. Sie steht jedoch mit allen anderen Organen im engen Austausch und vermittelt unsere Intention wie ein Diplomat. Natürlich können wir das Atmen nicht über Stunden bewusst gestalten, das würde uns handlungsunfähig machen, aber wir können von den rund 20000 Atemzügen pro Tag durchaus den einen oder anderen ganz bewusst nehmen. 

 

 

WIE OFT ATMEN?

Der Gasaustausch findet in den Alveolen, den Lungenbläschen, statt. Je flacher wir atmen, desto kleiner wird der Anteil an Frischluft, der effektiv an dieser Austauschfläche ankommt. Auch Hyperventilation (flaches und/oder schnelles Atmen) beeinträchtigt die Effizienz des Gasaustauschs. Um eine physiologische Atmung zu gewährleisten, sollte die Atemfrequenz bei 8-16 Atemzügen pro Minute liegen. Die Einatmung wird dabei dem Sympathikus (Aktivierung) zugeschrieben, die Ausatmung dem Parasympathikus (Beruhigung, Erholung). 

 

 

VERÄNDERUNG ENTLANG DER LEBENSSTATIONEN

Besonders interessant ist, wie sich die Atmung im Lauf eines Lebens verändert. Je nach Alter und Hintergrund sehen wir entsprechende Symptomatiken in der Praxis. 

» ZU BEGINN

Der Säugling macht mit dem ersten Atemzug intuitiv alles richtig. Er atmet nasal, verwendet die Zwerchfellatmung und schafft es, gleichzeitig zu atmen und zu trinken. Das Atmen ist in dieser Lebensphase kinderleicht und kraftsparend. Die Zwerchfell- bzw. Bauchatmung kann bis zu 80% der Atemtätigkeit übernehmen. Gleichzeitig verbraucht sie hierfür nur etwa 1% der ihr zur Verfügung stehenden Kraft. 

 

Das Zwerchfell ist eine mobile, horizontale Trennwand zwischen dem Brustkorb und den Verdauungsorganen. Es wird von verschiedenen Strukturen vertikal durchlaufen, die mit jedem Atemzug massiert und drainiert werden. Dazu gehören: 

 

  • Hauptschlagader
  • Hauptvene
  • (Hemi-)Azygosvenen
  • Speiseröhre
  • Vagusnerv
  • Sympathische Nerven
  • Hauptlymphgang

 

 

» STURM UND DRANG

Während des Wachstums zieht sich der Organismus in die Länge, die dabei entstehenden Zugspannungen im Bereich der Zwerchfelldurchtrittsstellen bringen die Atmung manchmal aus dem Takt. Teenager bekommen häufiger Schluckauf (Phrenicus-Reizung) und/oder Seitenstechen (Blutstau unter dem Zwerchfell). Im Jugendalter entwickelt sich die Bauchatmung (Syn. Zwerchfellatmung) vermehrt zur Brustatmung. Aber zum Glück küssen Youngster auch sehr gerne und betreiben dabei die eigentlich richtige Nasenatmung. 

 

 

» IM BESTEN ALTER

Bei vielen Erwachsenen hat die Mundatmung all das, was am Anfang des Lebens gut und richtig war, abgelöst. Tagsüber wird geraucht, nachts wird geschnarcht. Ganz allgemein befinden sich Erwachsene häufig im Spannungsfeld aus ungesunden Beziehungen, Stress am Arbeitsplatz und einer toxischen Stoffwechsellage. Aufgrund vieler alterstypischer Ereignisse entwickelt sich ein eher gestörtes Verhältnis zum eigenen Brustkorb: Ob Prellung oder Fraktur, Brust-OP (Krebsleiden) oder Herzinfarkt – der Brustkorb wird mehr und mehr zum Problem, anstatt Lösung zu sein. So lassen Wohlstandsbauch und Schulterarthrose die Brustatmung abflachen. Es entstehen u.a. Verdauungsprobleme, da der Hauptdrainagemuskel (Zwerchfell) aufgrund der Flachatmung ausgeschaltet wird. Wer an einem Metabolischen Syndrom leidet und in der Folge ein Obstruktives Schlafapnoe-Syndrom (OSAS) entwickelt, atmet schließlich gar nicht mehr (phasenweise nachts), was eine weitere Verschlechterung der Grundsituation nach sich zieht. 

» LAST BUT NOT LEAST

Im Alter kommen weitere typische Probleme hinzu, die den Atem rauben. Dabei haben nicht alle a priori mit der Lunge zu tun: Herzinsuffizienz ist ein häufiger Grund für Atemnot. Die Einnahme von Blutverdünnern (wegen künstlicher Herzklappen, Stents oder Rhythmusstörungen) bringt als Nebenwirkung oftmals Anämien mit sich – gefolgt von Atemnot, die nicht in der Lunge selbst begründet ist. Jede Form von Trainingsmangel führt zu Belastungsatemnot. Bei einer COPD-Erkrankung, mittlerweile Platz 3 der Todesursachen weltweit, ist v.a. die Ausatmung erschwert, CO2 kann nicht gut abventiliert werden, der pH-Wert des Blutes kippt – eine Abwärtsspirale wird eingeleitet. Rundrücken und Osteoporose sind orthopädische Gründe, die im Alter den Atem rauben können, da sich der Lungenraum hierdurch verkleinert. 

 

 

AUS DER PRAXIS

Die folgenden Tipps können Sie als Empfehlung an Ihre Patienten weitergeben bzw. selbst anwenden: 

 

» INHALATIONSSCHULUNG

80-100% der Inhalativa werden falsch verwendet. Lassen Sie sich zeigen, wie Ihr Patient sein Lungenspray verwendet und schulen Sie ihn in der korrekten Anwendung. Auf der Website der Deutschen Atemwegsliga e.V. finden Sie QR-Codes für fast jedes Spray. Pulverinhalatoren sind in der Regel einfacher anzuwenden als Dosieraerosole. Das Wichtigste: 5-10 Sekunden Luftanhalten nach jeder Inhalation. 

 

» INTENSIVIERUNG DER ZWERCHFELLATMUNG

Man kann die Bauchatmung fast überall üben: im Auto, beim Warten, im Büro. Den Bauchnabel bei der Einatmung herausdrücken und bei der Ausatmung einziehen. Der Rest des Körpers bewegt sich dabei nicht. Die Bauchatmung hat einen hohen Drainage-Effekt und macht die Atmung wieder kinderleicht. 

 

» NASENATMUNG

Je öfter man durch die Nase atmet, umso häufiger wird diese offenbleiben und umso ruhiger wird der Organismus. Die Atemfrequenz sinkt und mit ihr Blutdruck und Herzfrequenz. Das Mouth-Taping, welches die Nasenatmung erzwingt, ist hierfür ein gutes Training, z. B. beim Lernen oder Lesen. Nach den ersten Versuchen, die in der Regel nach wenigen Minuten scheitern, steigt die Toleranz gegenüber einem verschlossenen Mund schnell. 

 

» SPORT

Erwiesenermaßen leiden Post-COVID-Patienten überdurchschnittlich häufig an Trainingsmangel. Nicht nur sie, aber v.a. diese Patientengruppe profitiert von mehr Bewegung im Alltag. Leiten Sie Ihre Patienten zunächst an, den 6-Minuten-Gehtest (6MGT) zur Bestimmung der aktuellen Leistungsfähigkeit selbstständig anzuwenden. Und machen Sie sich mit den Signalen für Übertraining vertraut (Müdigkeit, Leistungsknick, Schokoladen-Heißhunger, Schlafstörungen, zum Ausschluss der DD ME/CFS achten Sie auf Fatigue, PoTS, OH/OI und PEM). Untrainierten rate ich, ins Wasser zu gehen. Wer bis zu den Schultern im Wasser steht und atmet, trainiert – denn mit jedem Atemzug muss das Wasser zur Seite geschoben werden. Rumpfrotationstraining mit einer Schwimmnudel, die Teilnahme an Aqua-Trainingskursen oder die Empfehlung von Wasser-Laufschuhen sind Bestandteile meiner Beratung. Als Ärztin verordne ich, wo immer möglich, Reha-Sport (budgetfrei), sodass Patienten über zwei Jahre 2-mal die Woche am Lungensport im örtlichen Sportverein teilnehmen können. Mit all diesen Maßnahmen wird einer orthopädisch relevanten Verkleinerung des Brustkorbs entgegengewirkt und protektive Hustenstöße (Haupt-Hustenmuskel: Lattisimus dorsi) werden verbessert. 

 

» ATEMFREQUENZ-KENNTNIS

Mit einem Timer (gestellt auf 1 Minute) kann jeder seine eigene Atemfrequenz bestimmen. Einmal ein- und einmal ausatmen = 1 Atemzug. Normal ist eine Anzahl von 8-16 Atemzügen pro Minute. Für COPD-Patienten sind Werte von 18/Min noch normal (was diesen erklärt werden muss). Abweichungen nach oben, gar über 25-30/Min., müssen als Gefahr erkannt werden. Dann ist therapeutische Hilfe nötig. 

 

» PEAK-FLOW-EIGENMESSUNGEN

Asthmatiker profitieren von der Selbstkontrolle, gerade Schüler geben die Werte gerne in ihr Handy ein (z. B. Breazy-App). Auch Post-COVID-Patienten lernen mit diesen Messungen oftmals, dass ihre Atemlosigkeit wenig mit der Lunge zu tun hat (Trainingsmangel, OSAS), was man im Gespräch erörtern kann. Selbstvertrauen und Compliance der Patienten werden so gestärkt. 

 

» OSAS-MESSUNG (POLYGRAFIE)

Bitte denken Sie bei Long- und Post-COVID-Beschwerden an schlafassoziierte Atemstörungen und verhelfen Sie Ihren Patienten zu einer Schlaf-Apnoe-Messung. Nach COVID können neue REM-assoziierte Apnoen in der Polygrafie auftreten. Mit einer APAP-Therapie nach Schlaflaborvorstellung kann diesen Patienten geholfen werden. 

 

» PRISM ALS SURROGATPARAMETER

Bei erhaltenem Tiffenau-Index und zeitgleich deutlich erniedrigter FEV1-Fraktion (PRISM [preserved ratio impaired spirometry]) wurde eine höhere Mortalitätsrate beobachtet. Häufig liegt eine Herzinsuffizienz vor. Überweisen Sie frühzeitig an einen Kardiologen, veranlassen Sie eine Polygrafie (hohe Komorbidität) und bestimmen Sie den ntproBNP-Wert (Nykturie? PH? HFpEF?). 

 

» KÖRPERHALTUNG

Aufgestützte Arme im Gespräch deuten auf eine obstruktive Atemstörung, einen erhöhten RAW und/oder auf eine Überblähung hin. Der Patient aktiviert so seine Atemhilfsmuskulatur. Besonders deutlich zeigt sich das bei Kindern mit Asthma. 

 

» VERHÄLTNISVERÄNDERUNG VON EIN- UND AUSATMUNG

Wer die Ausatmung betont, beruhigt sich (Aktivierung Parasympathikus).Man kann diese Veränderung ganz einfach bei einem Spaziergang trainieren: Man atmet über zwei Schritte hinweg nasal ein, danach über drei Schritte hinweg nasal aus. Das Anhalten der Luft in der Mitte des Atemmanövers sollte vermieden werden, es ist unnatürlich. Wenn eine Pause gemacht wird, dann nach der Ausatmung. 

 

» WORTWAHL DER PATIENTEN

Oft ist ein Schlüssel zur Lösung der Problematik die Art und Weise, wie sich Patienten ausdrücken. Mit Sicherheit können Sie so manche Information zwischen den Zeilen lesen und einige Antworten geben. 

 

 

„ICH KRIEG KEINE LUFT.“ (Krieg? Mit wem oder mit was? Stress?) 

 

„ICH PFEIFE AUS DEM LETZTEN LOCH.“ (Pfeifen? Behinderte Ausatmung? Obstruktive Ventilationsstörung? Asthma/COPD/Allergie?) 

 

„ICH MUSS VIEL ATMEN, DAMIT ICH LUFT BEKOMME.“ (Oxygenierung dauert 0,2 Sekunden, wo ist hier der Atemantrieb gestört? Diffusionsstörung? Seele?) 

 

„ICH HAB DIE NASE VOLL.“ (Nase zu? Blutdruck? Mundatmung? OSAS? Allergie?) 

 

„SEIT DER HERZ-OP KANN ICH NICHT MEHR RICHTIG DURCHATMEN.“ (Zwerchfell-Affektion? Phrenicus-Schaden? Narben?) 

 

„BEI UNSERER EHE IST DIE LUFT RAUS.“ (Küssen hilft!) 

 

„MANCHMAL GEHT ES MIR SCHLECHT, BLÄHUNGEN QUÄLEN MICH, SODASS MIR DIE LUFT WEGBLEIBT.“ (Zwerchfell durch Darmgase nach oben verschoben und fixiert? Fehlender Drainage-Effekt? Toxische Stoffwechsellage?) 

 

 

In den seltensten Fällen ist es Sauerstoffmangel, der die Patienten umtreibt. Überprüfen Sie in diesem Zusammenhang bitte noch einmal die wichtige Prioritätenliste, die ich anfangs angeführt habe. 

 

FAZIT

In meinen Augen ist die Lunge das spannendste Organ im Körper, da sie über viele Interaktionen mit dem Rest vom Organismus und der Umwelt verbunden ist. Die Atmung verändert sich im Laufe des Lebens – nicht nur in der Frequenz! Sie hat eine Schlüsselfigur und ist willentlich beeinflussbar– im übertragenen Sinn ist die Lunge sportlich. Wir können die Lunge abhören, 1000 Male ähnlich und doch immer wieder anders, die Wiederholung schult das Ohr auf die Nuancen. Der Patient selbst hält oftmals den Schlüssel zu seinen Problemen inne – auch hier können wir unser Ohr darauf schulen, das Anamnesegespräch feiner zu beurteilen. Ein Handwerk bleibt ein Handwerk. 

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