Single sein – Chancen und Risiken
Selbstbestimmter denn je können Menschen heutzutage wählen, ob sie in fester, offener, monogamer, polyamoröser oder in gar keiner Partnerschaft leben wollen. Alles ist in Ordnung, sofern es den jeweiligen Menschen damit gut geht. Was aber, wenn jemand gerne in einer Partnerschaft leben möchte, sich aber aufgrund negativer Erfahrungen nicht mehr traut? Denn die vielen Möglichkeiten, nicht zuletzt durch Online-Dating und unsere schnelllebige Zeit, bergen noch einmal mehr Potenzial dafür. Dieser Artikel gibt einen Einblick und zeigt Möglichkeiten des Umgangs damit auf. Im vorgestellten Praxisfall geht es um einen monogamen Beziehungswunsch.
SINGLE SEIN: MERKWÜRDIG ODER NEUE NORMALITÄT?
Ich beobachte immer wieder, dass Singles selbst von Freunden und Familie häufig den Stempel „merkwürdig“ aufgedrückt bekommen. Spannenderweise leben heutzutage aber mehr Menschen denn je als Single, laut Statista waren es im Jahr 2023 knapp 5,2 Millionen.
Wir können heute selbst bestimmen, ob und in welcher Art von Beziehung wir leben wollen. Das ist noch nicht allzu lange so. Noch vor ein paar Jahrzehnten waren Frauen von ihren Männern weitestgehend abhängig. Ab 30 galt man unverheiratet schon als schwer bis gar nicht mehr vermittelbar. In einigen Ländern dieser Erde ist dies leider immer noch verbreitet.
Warum also hat das Single-Dasein trotz aller Freiwilligkeit heute immer noch ein eher schlechtes Image? Sind solche Lebensphasen oder -entscheidungen wirklich nur negativ zu bewerten, oder ermöglichen sie auch Chancen, um persönlich daran zu wachsen? Was sind mögliche Risiken? Um diesen Fragen nachzugehen, beleuchte ich einen Fall aus meiner Praxis.
FALLSTUDIE
Marie ist Ende 30, als sie zu mir in die Beratung kommt. Sie hat den Wunsch nach einer stabilen Partnerschaft, aber es will ihr nicht gelingen. „Ich ziehe immer den gleichen Typ Mann an – erfolgreich im Job, sehr freiheitsliebend, spannender Lebensstil und jede Menge unbearbeiteter Päckchen. Außerdem weiß er nicht, was er will, und möchte erstmal schauen.“ Ich frage nach, wie das für Marie ist, mit der vermeintlichen Unsicherheit umzugehen. „Es macht mich wahnsinnig“, beschreibt sie, „ich will denen ja helfen mit ihren Problemen und sie auch zu nichts drängen, aber für mich ist das so anstrengend.“ Ich mache sie darauf aufmerksam, dass sie sich so zusätzlich mit den Problemen der potenziellen Partner belastet und dass sich ihre Beschreibung auch für mich beschwerend anhört.
Darüber hinaus bekommt Marie im Gegenzug nicht viel zurück, da sich die Männer nicht „committen“ – ihre eigenen Wünsche werden also nicht erfüllt. „Ich habe auch ständig Verspannungen im Rücken“, bestätigt Marie, „der Orthopäde konnte aber nichts feststellen.“ Ihr Körper zeigt ihr offenbar bereits, dass eine Dysbalance vorliegt und sie sich wohl zu viel auflädt.
ANAMNESE
Marie ist attraktiv, intelligent und wortgewandt. Probleme, jemanden kennenzulernen, würde man ihr nicht zuschreiben. „Hatte ich vor einigen Jahren auch noch nicht – da war ich offener. Mittlerweile igle ich mich aber ein, weil ich Angst vor neuen Verletzungen habe. Da bleibe ich lieber allein.“ Inzwischen hat sie sich ein schönes Single-Leben aufgebaut. Sie hat einen wachsenden und stabilen Freundeskreis, geht ihren Interessen nach, und auch ihr Job macht ihr vorrangig Freude. Dennoch ist der Wunsch nach einer verbindlichen Beziehung geblieben.
BEDÜRFNISORIENTIERUNG
Ich lasse mir von Marie berichten, wie ihre bisherigen Beziehungsversuche verlaufen sind. Dabei wird deutlich, dass sie sich immer schnell auf körperliche Nähe eingelassen hat. Sie fand das aufregend, rückblickend hat sie sich damit aber auch selbst überfordert. Meist war zu dem Zeitpunkt noch nicht geklärt, ob der Mann sich – wie sie selbst – eine feste Beziehung wünscht. „Aber wie kann ich das künftig umgehen?“, fragt sie mich. „Wo ist denn deine Grenze?“, spiegle ich ihr zurück. Sie weiß es nicht.
Ich lasse Marie imaginativ in eine Dating-Situation hineinspüren. Es handelt sich um ein drittes Treffen mit einem Mann. Er besucht sie, und im Laufe des Abends kommen sie sich näher. „Ah“, merkt sie, „mein Magen grummelt gerade richtig. Das geht mir viel zu schnell.“ Mehr als kleine Berührungen möchte sie zu dem Zeitpunkt mit einem für sie noch fremden Menschen nicht. „Lieber erstmal weiter kennenlernen, am besten auch außerhalb der eigenen vier Wände“, findet sie für sich heraus.
Das Hineinspüren übt sie daraufhin auch mit anderen Situationen. Ihre Gefühle und Körperempfindungen werden ihr so mit der Zeit zu einem wertvollen Kompass. Wir erarbeiten, wie sie mittels Ich-Botschaften bzw. dem Konzept der Gewaltfreien Kommunikation ihrem Gegenüber eigene Grenzen und Bedürfnisse wertschätzend und klar mitteilen kann. Damit fühlt sich Marie schon besser gerüstet, sie ist jetzt motivierter und zuversichtlicher hinsichtlich künftiger Dates. Sie versteht und verinnerlicht inzwischen, dass sie den Dating-Situationen nicht ausgeliefert ist, sondern selbst Einfluss nehmen kann. Folgende Übung gebe ich ihr mit:
ZUGANG ZU SICH SELBST VERBESSERN
Eine kleine Übung in puncto Selbstwirksamkeit ist, sich regelmäßig einige Minuten Zeit zu nehmen, um in sich hineinzuspüren. Was zeigt sich an Körperempfindungen, Gefühlen oder Gedanken? Es geht nicht darum, diese zu verändern, sondern sie nur wahrzunehmen und da sein zu lassen. Oft wollen wir gerade unangenehme Gefühle schnell loswerden.
Das führt aber meist nur dazu, dass sie sich umso deutlicher zeigen. Stattdessen kann man sich selbst die Frage stellen, was die Botschaft dahinter ist und was in dem jeweiligen Moment oder an diesem Tag unterstützend guttun würde. Meist ist das, was uns intuitiv als Erstes in den Sinn kommt, auch das Passende. Das kann alles Mögliche sein, etwa eine Tasse Tee trinken, ein Buch lesen oder hinaus in die Natur gehen. Regelmäßig angewandt (bitte ohne Druck), kann diese Gewahrseins-Übung dabei unterstützen, dass wir uns selbst wieder besser im Blick haben, auf unsere Bedürfnisse und Grenzen achten und selbstwirksamer leben können.
Noch ein weiterer positiver Effekt: Durch einen besseren Zugang zu uns selbst optimieren sich oft auch unsere Beziehungen im Außen.
BLICK IN DIE VERGANGENHEIT
Meine Haltung entstammt den humanistischen Therapieformen. So glaube ich u.a. daran, dass wir nur im Hier und Jetzt Veränderungen vornehmen können, denn die Vergangenheit ist vorbei und die Zukunft noch ungewiss. Manchmal halten uns unverarbeitete Themen aus der Vergangenheit jedoch davon ab, gut in der Gegenwart leben zu können und uns für die Zukunft auszurichten. Dann wiederholen sich manche Themen gefühlt immer wieder, und wir schaffen es (noch) nicht, diesen Kreislauf zu durchbrechen. Misslingt uns erneut etwas, reaktiviert dies womöglich alte Wunden.
So ist es auch bei Marie. Daher werfen wir im Verlauf unserer Sitzungen, nachdem sie dafür emotional stabil genug und bereit ist, einen näheren Blick auf ihre Beziehungshistorie – beginnend in der Kindheit, denn unsere Eltern und sonstige enge Bezugspersonen sind unsere ersten Beziehungsvorbilder. Hier lernen wir und werden geprägt für unser späteres eigenes Beziehungsleben. Das kann sich sowohl negativ als auch positiv auswirken, manchmal auch beides zusammen.
Wir finden heraus, dass Marie einerseits sehr behütet wurde (Mutter) und andererseits eher Distanz und Impulsivität herrschte (Vater). Das zeigt sich in ihrer heutigen Partnerwahl. Schritt für Schritt verarbeitet Marie in der Therapie die früheren Themen, die sich als ungünstig für ihre Entwicklung bzw. ihr Beziehungsleben herausstellen. Es gelingt mithilfe von regressiver Hypnose, Elementen aus dem EMDR und der gestalttherapeutischen Stuhlarbeit, die früheren unerfüllten Bedürfnisse und Gefühle nachträglich zu erfüllen und zu integrieren. Hierfür finden nachgestellte Begegnungen mit den Eltern und auch mit Maries kindlichem Anteil statt. Was hier leicht klingt, ist natürlich ein psychotherapeutischer Prozess, der Zeit benötigt und individuell lange dauert. Marie hat bereits Therapieerfahrung, sodass ihr ihre Themen zum Teil schon bekannt gewesen sind.
ZURÜCK IN DIE GEGENWART
Neben der Reise in die Vergangenheit und der zuvor beschriebenen Gewahrseins-Übung (u.a. durch das bewusste Hineinspüren in sich selbst) lernt Marie ihre inneren Anteile sowie einen möglichen Umgang mit diesen kennen. Sie versteht, dass sie es selbst in der Hand hat, mit ihren Gefühlen umzugehen. Indem sie diese wahrnimmt und ihre Botschaft begreift, kann sie erkennen, was sie in der damit zusammenhängenden Situation gerade braucht.
Sie lernt auch, mehr bei sich zu bleiben und ihre Grenzen und Bedürfnisse besser aufzuzeigen. Vor allem spürt sie bei Männerbegegnungen besser in sich hinein, ob diese ihr guttun. Außerdem lässt sie sich beim Kennenlernen deutlich mehr Zeit. „Wenn ein Mann mir diese nicht geben will, dann ist er ja an mir als Mensch auch nicht wirklich interessiert“, resümiert sie.
AUSBLICK
Marie ist zwar noch Single, der Wunsch nach einer Beziehung bestimmt aber nicht mehr ihr Leben. Das Thema macht ihr nicht mehr so große Angst wie bisher, sondern sie freut sich inzwischen wieder, wenn sie angesprochen wird oder ein angenehmes „Match“ hat. Sie kommt aktuell noch alle 4-6 Wochen „zur Bestandsaufnahme und zum Üben“ zur Therapie und fühlt sich damit gut. Auch hat sie verstanden, dass es nicht ihre Aufgabe ist, die Probleme ihrer potenziellen Partner zu lösen. „Das sollen die schön selber tun“, sagt sie heute deutlich selbstbewusster.
Damit ist auch ihr Blick in die Zukunft optimistischer, und sie erlaubt sich wieder den hoffnungsvollen Gedanken, dass ein für sie passender Partner in ihr Leben kommen wird. Die Weichen in der Gegenwart hat sie dafür jedenfalls gestellt.
Natürlich gerät sie auch ab und zu in alte Verhaltensmuster zurück, hadert mit sich und verliert ihre Bedürfnisse aus dem Blick. Das ist nur menschlich. Durch alles, was sie über sich erfahren und gelernt hat, gelingt es ihr jedoch heute immer besser und schneller, wieder zu sich zu finden und ihren Weg gestärkt weiterzugehen.
FAZIT
Die Vorteile des Single-Lebens sehe ich v.a. darin, dass man sich selbst besser kennenlernen kann. Es bietet die Möglichkeit, Dinge auszuprobieren – etwa, allein oder in einer Gruppe zu verreisen oder für sich selbst zu schauen, wo und wie man leben möchte. Auch die Gelegenheit, einmal aufzuräumen und auszusortieren in der eigenen Beziehungslandschaft und sich, sofern es der Wunsch ist, seiner eigenen Ressourcen, Bedürfnisse und Grenzen bewusst zu werden, um sich so für künftige Partnerschaften besser auszurichten.
Indem man sich selbst besser kennt, kann man passendere Entscheidungen treffen oder einen anderen Umgang mit Enttäuschungen finden. So lässt sich auch das Risiko vermindern, sich vor neuen Menschen, die ins Leben treten, zu verschließen oder sich vorschnell auf diese einzulassen.
Seminare zum Thema Single sein, Partnerschaften und Ehe
Vanessa Kämper
Heilpraktikerin für Psychotherapie mit Schwerpunkten Hypnose, EMDR, Gestalt- und Gesprächstherapie
kontakt@gefuehlssprechstunde.deWeitere Artikel aus dieser Ausgabe
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