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Psychotherapie
Lesezeit: 5 Minuten

Fallstudie aus der psychotherapeutischen Praxis

AKUTE BELASTUNGSREAKTION NACH ARBEITSUMFALL

Die 28-jährige Frau G., von Beruf Schreinerin, kommt auf eigene Initiative in meine Praxis. Zwei Monate zuvor hatte sie einen Arbeitsunfall, bei dem sie ein Glied des rechten kleinen Fingers verlor. Seit dem Unfall plagen sie große Unsicherheit und Probleme mit ihrem Aussehen. Sie fühlt sich insgesamt beschädigt und unattraktiv. Außerdem leidet sie unter starken Kopfschmerzen. Sie ärgert sich mittlerweile schnell und wird verbal aggressiv, v. a. ihrem Partner gegenüber, aber auch im Freundeskreis oder in alltäglichen Situationen. Derart unangemessen zu reagieren, kennt sie so nicht von sich und möchte all dem auf den Grund gehen. 

 

 

ANAMNESE

Seit der Lehrzeit ist Frau G. in derselben Schreinerei tätig und hat sich dort immer wohlgefühlt. Nach dem Unfall haben sich Konzentrationsschwierigkeiten eingestellt. Sie meidet nun den Kontakt zu Kollegen und möchte nach Feierabend nicht mehr in Aktivitäten eingebunden sein. Auch ihr Selbstwertgefühl hat erheblich gelitten. Sie empfinde ihre Kommunikationsfähigkeit als eingeschränkt; es falle ihr schwer, ihre Gefühle und Probleme in Worte zu fassen und mit anderen darüber zu reden, berichtet sie. Vor allem beschäftigt Frau G. die große Angst, ihr Freund könne sie verlassen, da sie doch nun durch das fehlende Fingerglied unansehnlich geworden sei. Zwar beharre dieser darauf, sie zu lieben, aber das könne sie nicht glauben. Sie fühlt sich ständig unter Druck und leidet an belastenden Erinnerungen.

 

FAMILIENANAMNESE

Die Klientin wächst als Einzelkind auf. Der Vater starb sehr plötzlich an einem Herzinfarkt, als die Klientin zehn Jahre alt war. Die Beziehung sei sehr eng gewesen. Auch von der Mutter hat sie Zuwendung und Aufmerksamkeit bekommen, diese hatte jedoch immer viel zu erledigen. Bis zum Tod des Vaters war sie eine sehr gute Schülerin, dann kam es zu einem starken Leistungsabfall, sodass sie vom Gymnasium auf die Realschule wechselte. Die Lehre zur Schreinerin schloss sie Akute Belastungsreaktion nach Arbeitsunfall mit guten Noten ab. Seit etwa sechs Jahren lebt sie mit ihrem Freund zusammen. Zurzeit kann sie wegen der Verletzung ihren Hobbys (Tennis und Malen) nicht nachgehen. 

 

PSYCHISCHER BEFUND UND DIAGNOSE

Die Patientin erscheint gepflegt und sorgfältig gekleidet. Im Kontakt ist sie freundlich und zugewandt. Bei der Schilderung ihrer Beschwerden wirkt sie stark zurückgenommen. Ihr hoher Leidensdruck wird deutlich. Frau G. berichtet von sich unwillkürlich aufdrängenden Erinnerungen an den Unfall und das damit verbundene Geschehen. Sie träumt nachts oft davon und erwacht. Auch wenn sie schreibt und dabei ihre Hand sieht, holt sie die Erinnerung ein. Gedanken und Gefühle, die mit dem Geschehen verbunden sind, werden vermieden. Trotzdem schafft sie es, am Arbeitsort zu erscheinen. Ihre Arbeitsfähigkeit bleibt erhalten. Ich sehe vorrangig die Diagnose F43.0 – Akute Belastungsreaktion. 

 

 

ZUSAMMENARBEIT

Zunächst vermittle ich Frau G., dass ihre Symptome und das veränderte Verhalten eine durchaus „normale“ Reaktion auf eine überfordernde Erfahrung sind. Der Mensch geht normalerweise davon aus, dass die Welt hinreichend geordnet und die individuelle Sicherheit daher gewährleistet ist. Der Arbeitsunfall habe dieses Sicherheitsgefühl erschüttert und sie als verletzte sowie zukünftig auch verletzbare Person zurückgelassen. Frau G. kann sich gut auf die Erklärungen zur Genese einer Belastungsstörung einlassen. Sie lernt, sich selbst zunehmend besser zu verstehen. Unsere Arbeitsbeziehung stabilisiert sich im Verlauf der Sitzungen und wird deutlich entspannter. 

 

VERLAUF

Die Sitzungen starten mit unterschiedlichen Entspannungstechniken (u.a. Progressive Muskelentspannung, Atemübungen, Grounding, Körperübungen). Ich vermittle Strategien zur Regulation von Anspannung, dabei spricht die Patientin besonders gut auf Vorstellungsübungen wie den „Inneren Tresor“, den „Sicheren Ort“ und den „Schutzmantel“ an. Der Verlauf der Therapie orientiert sich an der „Mehrphasigen Integrativen Traumatherapie (MITT)“ sowie gestalttherapeutischen Methoden im Sinne einer dialogischen Traumatherapie. Dabei bauen die Phasen innere Sicherheit, Stabilität, Konfrontation und Integration aufeinander auf. Im Rahmen der zunehmenden Stabilisierung besprechen wir funktionale Strategien im Umgang mit Emotionen, Konflikten und Stress sowie adäquate Kommunikationsstrategien z. B. im Rollenspiel bzw. mithilfe von Stuhlarbeit. 

 

STATUS QUO

Über einige Sitzungen arbeiten wir an den Befürchtungen von Frau G. hinsichtlich ihrer Auseinandersetzung mit dem Unfallgeschehen sowie dessen Auswirkungen auf ihre Lebensqualität. Die Pazientin kann immer deutlicher eigene realistische Ziele und Wünsche für die Zukunft wahrnehmen und benennen. In diesem Zusammenhang wird der frühe Tod des Vaters thematisiert und in der weiteren Arbeit neu bewertet. Er erhält schließlich einen angemessenen Platz im Leben von Frau G. 

 

 

AUSBLICK

Sobald mehr Möglichkeiten der Selbstunterstützung und der Konflikt- und Dialogfähigkeit zur Verfügung stehen, werden wir mit der belastenden Erinnerung in Kontakt treten. So werden die bildhaften Erinnerungen, Körpererinnerungen wie auch die negativen Kognitionen in einer sicher erlebten Umgebung aufgerufen und neu verarbeitet. Ziel der gesamten Therapie ist das Annehmen der körperlichen Veränderung sowie eine realistische konstruktive Einordnung des Geschehens in ihr Selbstkonzept. 

 

FAZIT

Bei Reaktionen auf schwere Belastungen wie im vorliegenden Fall ist eine zeitnahe therapeutische Unterstützung angezeigt, um eine Verfestigung der Symptome im Sinne einer Chronifizierung zu verhindern. Die Mehrphasige Integrative Traumatherapie unterstützt durch stabilisierende und ressourcenorientierte Ansätze und wirkt den Vermeidungstendenzen entgegen. Gestalttherapeutische Interventionen vergrößern und stabilisieren die Dialog- und Beziehungsfähigkeit, sodass es möglich wird, das Geschehene in ein größeres Ganzes des Lebensprozesses zu integrieren. 

Sigrid Budszuhn

Dipl.-Pädagogin, Heilpraktikerin für Psychotherapie und Gestalttherapeutin

gestalttherapie@praxis-budszuhn.de

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